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Im Schatten des Drachen

Im Schatten des Drachen

Titel: Im Schatten des Drachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A. Leuning
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es selbst schwer genug hast, wie er sagte. Das ist sicher nobel, und du solltest ihm keinen Vorwurf daraus machen. Wenn du gehen willst, dann tu es jetzt. Aber wenn du bleiben willst, dann nicht aus Mitleid.“ Damit verschwand er im Probenraum, ließ mich allein mit meinen Zweifeln an Paul und mir, meiner Angst um ihn und vor mir selbst.
    Mein Blick fiel wieder auf den schwarzen Kasten auf dem Lautsprecher. Darin lag die Geige mit einem verbogenen Wirbel und einer Schramme in der Zarge. Irgendwo in irgendeinem Krankenhaus lag Paul mit verbogenen Gliedmaßen und einer Schramme im Herzen. Was war leichter zu reparieren, die Geige oder er? Schon bei der Geige hatte ich keine Ahnung.
    Ich schloss den Kasten und nahm ihn in den Arm, vorsichtig, als könnte ich durch den stabilen Kunststoffkoffer hindurch das empfindliche Holz beschädigen.
    Tom kam wieder heraus. „Wo willst du mit der Geige hin?“
    Zum ersten Mal an diesem Abend schaffte ich es, meine Panik hinunterzuschlucken und ihm fest in die Augen zu blicken.
    „Mich darum kümmern. Wenn ihr nichts dagegen habt.“
    Peter kam ebenfalls heran, und sie tauschten Blicke aus: Peter war noch immer wütend und wollte protestieren, doch Tom schien ihn mit einem sanften, bittenden Kopfschütteln zu beschwichtigen, worauf er mit einem unwirschen Schnauben wieder im Probenraum verschwand. Tom nickte mir zu und gab mir die Adresse eines Instrumentenbauers in der Stadt, ich ihm meine Handynummer und wir uns gegenseitig das Versprechen, einander anzurufen, wenn einer von uns etwas neues wüsste. Mit dem Geigenkasten unter dem Arm trat ich aus dem stickigen Pub hinaus in die kühle Nacht.
    Obwohl es angefangen hatte zu regnen, rief ich mir kein Taxi, sondern hinkte zu Fuß zurück zum Hotel. Anders als in Frankfurt, wo der Regen stets in dunklen, schweren Tropfen auf den Asphalt prasselte, in Pfützen klatschte und binnen weniger Minuten die Gullis zum Überlaufen brachte, war der Regen in Dublin fein und weich, typisch für Irland.
    Ich wusste, dass dieser Regen, wenn ich ihn irgendwo auf einer sattgrünen Wiese sitzend schicksalsergeben auf mich hätte herabrieseln lassen können, vielleicht heilend gewesen wäre; wenn er sich wie ein zarter Schleier auf die Haut gelegt und all den Staub der letzten Tage von mir abgespült hätte, um dann sanft in die Poren einzudringen und sie von innen heraus zu reinigen. Doch in den neonlichtbeschienenen Straßen Dublins wirkte dieser Zauber nicht. Meine Gedanken rauschten wie das Wasser im Rinnstein durch meinen Kopf, wurden angespült und fortgeschwemmt gleich Planken eines gesunkenen Schiffes, und meine schleifenden Schritte gaben einen verzerrten Takt zu der Musik, die noch immer in meinen Ohren pulsierte.
    „Er ist Epileptiker ... er hatte es im Griff, bis du ... kein Mitleid ... in dem Chaos ...“
       
     
       
     
    Dublin, Krankenhaus, 10. Mai 2002 abends
       
     
    Nur sehr langsam klärten sich die Gedanken, fanden die Sinne wieder die Verbindung zueinander, befreiten sich aus dem Chaos, das die Narkose in ihm angerichtet hatte. Er hatte Angst, die Augen zu öffnen, aber die ungewohnte Helligkeit um ihn herum zwang ihn schließlich doch zu einem Orientierungsversuch.
    Plötzlich hörte er eine vertraute Stimme.
     „Hannes? Bist du wach?“
    Sie drang wie von weit her an sein Ohr, und am liebsten hätte er die Brücke zwischen ihr und sich nicht beschritten. Aber seine Sinne drängten ihn zum Weitergehen, das Leben in ihm zwang ihn zum Weiterfunktionieren, mit der Stetigkeit seines Herzschlages, den er mittlerweile wieder kräftig in seinem Brustkorb spürte.
    Er öffnete die Augen. Er lag in einem weißen Krankenhauszimmer, in einem weiß bezogenen Bett, neben ihm stand ein weißer Nachttisch, darauf eine weiße Plastikschnabeltasse und eine weiße Porzellanvase mit Blumen. Gelben Blumen, Gerbera vielleicht, er kannte sich damit nicht aus. Aber bestimmt waren es Gerbera, denn die würden zu der Stimme passen, die er gerade gehört hatte. Die Stimme seiner Schwester. Und jetzt sah er sie auch.
    „Fine.“
    Der Name kam ihm nicht leicht über die trockenen Lippen. Im nächsten Moment fühlte er, wie sich eine Hand fürsorglich unter seinen Kopf schob, während eine andere die Schnabeltasse an seinen Mund führte.
    „Trink erstmal was.“
    Die penetrante Sanftheit in ihrer Stimme machte Johannes fast wahnsinnig, ließ ihn um so deutlicher spüren, dass irgend etwas nicht stimmte, ganz und gar nicht stimmte, aber die

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