Im Schatten des Drachen
Stimme wollte ihm nicht verraten, was es war.
Sie sahen sich an. Bruder und Schwester, von Kindesbeinen an untrennbar miteinander verbunden, auch über die schwere Zeit hinweg, als die Eltern ihn beinahe hinausgeworfen hatten, weil er so anders war, als sie es sich gewünscht hatten. Josefine hatte zu ihm gestanden, hatte das Band zwischen ihnen festgehalten, und war auch jetzt wieder bei ihm, hier, in Dublin, in diesem Krankenhaus, an seinem Bett. Soviel war ihm nun erst einmal zu seiner momentanen Situation klar geworden.
„Was ist passiert, Hannes? Die Ärzte sagten, du hättest gestern einen Motorradunfall gehabt. Aber du kannst doch gar nicht fahren, oder? Du hast keinen Motorradführerschein.“
Wie Gewitterblitze kehrten die Erinnerungen an gestern zurück. Oder war es letzte Woche? Letztes Jahr? Irgendetwas in Johannes sträubte sich gegen die Bilder wie Hundefell, das man gegen den Strich zu bürsten versuchte. Er schaffte es nicht, sich an Einzelheiten zu erinnern. Nur verschwommene Bilder von einem aufgebockten Motorrad, einer mit Kies überzogenen Straße, einem schwankenden Bus und einer Tachonadel im roten Bereich drangen an die Oberfläche, und dann zerriss ein gellender Schrei auch die letzte Verbindung.
„Maaaarc!!!“
Nur zögernd löste sich ihr Klammergriff um seinen Arm, mit dem sie ihn unerbittlich fest in die Kissen gedrückt hielt. All zuviel Kraft war dazu nicht nötig gewesen, denn sein Körper schien ihm so leicht und widerstandslos wie eine Daune, die der nächste Windstoß davontragen würde. Nur die Wärme des Tees in seinem Magen verriet ihm, dass er aus mehr bestand als aus dem, was er sah.
„Wo ist Marc?“, hörte er sich krächzen.
Josefine blickte ihn ruhig an.
„Es geht ihm gut.“
Johannes hob den Kopf und zwang sich zu einem Rundblick durch das Zimmer, aber außer seinem Bettgiebel und dem Nachttisch sah er nur noch einen weißen Schrank, der halb in die weiße Wand eingelassen war. Die grauweiße Tür gegenüber führte vermutlich ins Badezimmer.
„Wo ist er? Warum ist er nicht hier bei mir?“
Josefines Gesichtsausdruck veränderte sich nicht, als sie mechanisch wiederholte: „Es geht ihm gut, glaub mir, Hannes.“
Sie war die einzige, die ihn Hannes nannte und damit auch die andere Seite in ihm ansprach. Doch im Moment half ihm das nicht weiter.
Der Tee trieb.
„Ich muss mal.“
Er wollte die Decke zurückschlagen, doch eine ruckartige Bewegung ihrerseits ließ ihn zusammenfahren. Mit ungläubigem Erstaunen bemerkte er, wie krampfhaft sie die Decke niederdrückte, mit welch panischer Angst ihr Blick hilfesuchend umherflog und sich dann wieder auf ihn legte, ihn zu hypnotisieren versuchte, während ihr Mund unverständliche Worte formulierte.
„Du ... du kannst nicht aufstehen, du ... musst ... hier, die Ente, du musst da rein ...“ Sie reichte ihm ein unförmiges, gelblichweißes Plastikding.
Angewidert schob er es von sich.
„Blödsinn, ich pinkle doch nicht in so ein Teil. Komm, du stützt mich ein bisschen, und dann geht das schon.“
Noch ehe sie etwas dagegen tun konnte, hatte er mit neu erwachter Kraft ihre Hand weggeschoben und die Bettdecke zurückgeschlagen.
Im nächsten Moment stockte ihm der Atem, das Herz setzte aus und weigerte sich schreckliche drei Sekunden lang, weiterzuschlagen. Fassungslos starrte er auf den Verband, der sein linkes Bein einhüllte.
Nur das Bein.
Da war kein Fuß. Kein Knöchel. Keine Zehen.
Augenblicklich überschwemmte ihn Dunkelheit wie eine Tsunamiewelle, und er stürzte in ein endloses Chaos aus Angst, Pein und Verzweiflung, das ihn für eine lange Zeit nicht mehr freigeben sollte.
Ich musste wohl mehr als eine Stunde durch den Regen gelaufen sein, denn ich war völlig durchnässt, als ich schließlich das Hotel erreichte, das Zimmer aufschloss und mich auf mein Bett fallen ließ. Die Geige war in ihrem Kasten gut geschützt gewesen, warm und trocken unter meiner Jacke. Der Weg zurück hatte mich total erschöpft, sowohl der ins Hotel als auch der meiner Erinnerungen. Ich schaffte es noch, mir die nassen Kleider vom Leib zu reißen, dann schlüpfte ich umständlich unter die festgezurrten Laken. Erstaunlicherweise machte es mir heute nichts aus, dass ich darunter eingeschnürt wie eine Mumie lag; im Gegenteil hatte die enge Starre im Moment etwas Tröstliches, weil sie mir Halt gab in dem Strudel, der mich gerade wieder zu verschlingen drohte. Im nächsten Moment schlief ich
Weitere Kostenlose Bücher