Im Schatten des Drachen
Die Erektion in seiner Hose, die trotz der unendlich peinlichen Situation nicht abklingen wollte, beachtete sie einfach nicht. Er war sich dessen bewusst und ihr unendlich dankbar, dass sie nicht lachte, nicht schimpfte, nicht einmal fragte, woher er die Bilder hatte. Irgendwann tröstete ihn das Gefühl, dass sie in diesen intimen Minuten genau dasselbe sah wie er, und dabei doch etwas ganz anderes fühlte. Oder war es auch genau dasselbe, nur aus einer anderen Richtung?
An diesem Nachmittag redeten sie zum ersten Mal seit langem wieder richtig miteinander: über Männer und Liebe und ihrer beider Angst vor all dem. Josefine gestand ihm, dass sie sich gerne vorstellte, vielleicht einmal ‚da unten’ geküsst zu werden. Er erzählte ihr von seinem Unbehagen davor, dass Männer Liebe ‚von hinten’ machten. Sie nahm seine Hand und erklärte, dass sie sich so etwas im Moment auch nicht vorstellen konnte.
„Aber wer weiß, was man tut, wenn man völlig verknallt ist?! Hannes, ich finde es schön, dass du so bist, wie du bist, denn du bist mein kleiner Bruder. Und wer ein Problem mit dir hat, der hat auch eins mit mir. Klar?!“
Sie lächelte ihn an, gerade heraus und mitten ins Gesicht, und in dem Moment begriff er, dass ihre Wege sich niemals trennen würden, denn sie würden immer Geschwister bleiben. Zwillingsgeschwister, sie nur zwölf Minuten und drei Sekunden älter als er. Er lächelte zurück.
Sein verschmitztes Lächeln riss mich aus meinen Gedanken. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass Paul aufgewacht war, nahm nur mit einem Mal dieses warnende Kribbeln hinter der Stirn wahr, das ich als Alarmzeichen zu deuten gelernt hatte. Doch von Paul neben mir ging keine Gefahr aus.
Die letzte Nacht war mir endlos erschienen. Stundenlang hatte ich auf seine Atemgeräusche neben mir gelauscht, seine Bewegungen verfolgt und im fahlen Licht sein Antlitz betrachtet. Wenn er sich umdrehte, hatte ich mich hastig zurückgezogen, nur um mich dann um so vorsichtiger wieder an ihn zu schmiegen, sobald er ruhig und entspannt dalag. Sonst war nichts geschehen, überhaupt nichts, und ich wusste nicht, ob ich darüber enttäuscht oder erleichtert sein sollte.
Der gestrige Auftritt hatte sich in die Länge gezogen, und Paul war zu müde gewesen, um noch nach Hause zu fahren. Also hatte ich ihn zu mir eingeladen, mit bang klopfendem Herzen, was aus dieser spontanen Aktion werden würde. Aber Paul hatte sich nur bis auf den Slip ausgezogen und ins Bett gelegt, wo er vor Erschöpfung auf der Stelle eingeschlafen war. Nicht einmal das Geklapper meiner Prothese hatte ihn gestört. Die ungewohnte Situation und die Befürchtung, im Schlaf zu schnarchen und mich dadurch lächerlich zu machen, hatten mich erst im Morgengrauen in einen kurzen, unruhigen Schlummer sinken lassen. Nun fühlte ich mich wie gerädert, während seine himmelblauen Augen mich hellwach und irgendwie kindlich weich unter seinen roten Locken hervor anfunkelten.
„Guten Morgen, Matty. Schön, dich zu sehen.“
Das Kompliment verwirrte mich, und ich brachte nur ein unsicheres Lächeln zustande, um dann endlich mit etwas kratziger Stimme zu fragen: „Wie hast du geschlafen?“
Die Frage hätte ich mir sparen können, denn ich wusste das ja aus eigener Beobachtung selbst sehr genau. Pauls Lächeln wurde noch weicher, als er flüsterte: „Gut. Weil ich wusste, dass du auf mich aufpasst. Die ganze Nacht lang, stimmt’s?“
Ich räusperte mich verlegen.
Paul wandte sich um und schwang die Beine aus dem Bett.
„Ich muss jetzt meine Tabletten nehmen, Matty, und danach noch eine halbe Stunde liegen bleiben, damit sie wirken. Ich hoffe, es stört dich nicht, wenn ich dich noch eine Weile belästige?“
Er warf mir über die Schulter einen kessen Blick zu, den ich mit einem gönnerhaften Nicken beantwortete.
Meine Augen folgten jeder seiner Bewegungen, als er aufstand und nach seiner Jacke griff, um daraus eine Pappschachtel hervorzuholen und damit dann im Bad zu verschwinden. Ich beneidete ihn um die Spontanität seiner Bewegungen. Für mich bedeutete das Aufstehen ein viertelstündiges Ritual mit genau festgelegten Handgriffen, das schon abends beim Schlafengehen vorbereitet wurde. Die Prothese lehnte neben meinem Bett, Hose und Unterhose dazu, meine Salbe auf dem Nachttisch und daneben eine kleine Wasserschüssel mit Lappen und Seife. Ich überlegte gerade, ob ich Paul den Anblick dieser Prozedur ersparen und mich jetzt entweder total beeilen oder
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