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Im Schatten des Drachen

Im Schatten des Drachen

Titel: Im Schatten des Drachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A. Leuning
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berechnest du, weil am Ende etwas Vernünftiges herauskommen muss. Vertraue doch einfach mal deinem Gefühl!“
    Und dann reckte er sich vor und legte seine Lippen auf meine.
       
     
       
     
    Dublin, Anfang Januar 2002
       
     
    Wieder einmal hatten sie noch bis spät in die Nacht hinein zusammengesessen, gerechnet, diskutiert, sich Formeln und wüste Beschimpfungen an die rauchenden Köpfe geworfen und schließlich alles mit einer Flasche Wein hinuntergespült. Mittlerweile hatte Marc längst seine Bücher zusammengeräumt, und nur Johannes saß noch am Tisch, vor sich den leise summenden Laptop, und feilte verbissen an der Beweisführung für das morgige Referat. Die gemeinsamen Lernabende waren für ihn eine ungeahnte Bereicherung, nicht zuletzt, weil Marc ihm Anerkennung und Respekt zollte, die er sich selbst bisher nicht zugestanden hatte. Beinahe begann er, sich zugehörig und aus sich selbst heraus akzeptiert zu fühlen. Dann wiederum schien es ihm wie eine Illusion; vielleicht war es nur eine Frage der Zeit, bis sich dieser Beweis von selbst vollzog.
    Der leichte Luftzug in seinem Nacken ließ ihn sich erstaunt umwenden. Natürlich, es war Marc, der sich hinter ihm auf die Stuhllehne stützte und über seinen Kopf hinweg scheinbar interessiert das Diagramm auf dem Bildschirm betrachtete. Suchte auch er noch nach einer Schwachstelle in ihrem Vortrag? Johannes unterdrückte die Frage, denn als Marcs Augen endlich in sein Gesicht blickten, lag darin ein seltsamer Glanz, den er noch nie gesehen hatte. Er mochte vom Wein kommen, denn auch Marcs Wangen waren gerötet. Johannes mochte diesen Glanz, und dennoch war ihm plötzlich nicht wohl in seiner Haut. Etwas lag in der Luft, das nicht da sein durfte. Schließlich brach er das Schweigen.
    „Was ist los? Warum siehst du mich so an?“
    Marc antwortete nicht. Sein warmer, alkoholisierter Atem hüllte Johannes ein in einen süßlichen, betörenden Nebel. Die Nähe dieser fremden und doch so vertrauten, schimmernden Lippen zu den seinen hatte etwas Aufreizendes an sich, und einen Augenblick lang war er versucht, dieses schöne Gesicht über sich herunterzuziehen und zu küssen. Er blinzelte, um die Illusion zu verscheuchen, und endlich wandte Marc sich ab und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen, während er sich mit der Hand immer wieder durch seine Strubbelmähne fuhr. Schließlich fragte er:
    „Du weißt, was man auf dem Campus über dich so erzählt?“
    Johannes war verwirrt.
    „Mir war nicht bewusst, dass ich ein Thema für den Tratsch an der Uni  bin.“
    Marc lachte nervös auf.
    „Du hast es also noch nicht mitbekommen?“
    Johannes schüttelte den Kopf und fuhr den PC herunter. Die Ahnung drohenden Unheils in ihm verstärkte sich, und er hatte das Gefühl, nach diesem Gespräch ohnehin nicht mehr weiterarbeiten zu können. „Willst du mich an deinem neu erworbenen Wissen teilhaben lassen?“, fragte er betont lässig.
    Marc drehte sich zu ihm um und erklärte aufgebracht: „Sie sagen, du seiest eine Schwuchtel. Du wärst schwul und ich dein Kerl. Das ist doch ein Witz, oder?!“
    Johannes saß wie versteinert. Nicht nur diese harten, hässlichen Worte, die Marc benutzte, verletzten ihn zutiefst. Auch der Ton und die unausgesprochene Herausforderung, die darin lag, trafen ihn in seinem tiefsten Inneren. Krachend schlugen die Wogen über ihm zusammen. Er wusste, dass er nicht zu antworten brauchte; sein Schweigen würde als Bestätigung ausreichen, um Marc von hier zu vertreiben, ihn von ihm fortzureißen und ihn selbst hinabzustoßen in den schwarzen Strudel, aus dem er sich gerade befreit gewähnt hatte. Er biss die Zähne zusammen und starrte weiter auf den schwarzen Monitor vor sich.
    Schließlich trat Marc ganz dicht an ihn heran und erklärte in versöhnlicherem Ton: „Hör zu, Jo: ich für meinen Teil weiß, dass ich nicht schwul bin, weil ich meinen Ständer nicht in der Männerdusche bekomme, sondern beim Damenvolleyball.“
    Das verschmitzte Grinsen in Marcs Gesicht half Johannes über den Schock hinweg, dass sein Kumpel  ihn so genau beobachtet hatte.
    „Schon gut,“ versicherte der rasch, „es hat keiner außer mir gesehen, Ehrenwort. Ansonsten ist es mir ehrlich gesagt scheißegal, worauf du stehst, und ich pfeife drauf, was die anderen über dich reden. Das musst du mit ihnen selbst ausmachen. Für mich bist du ganz einfach ein cleverer Kopf, du hast echt was auf dem Kasten. Ich sehe dich als Mathematiker, Kommilitone und

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