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Im Schatten des Drachen

Im Schatten des Drachen

Titel: Im Schatten des Drachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A. Leuning
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Empfindungen aus der Realität zu vermischen, um mich in dieser neuen Fantasie wieder verlieren zu können. Doch mein Bewusstsein ließ sich nicht täuschen. Hartnäckig kämpfte es sich an die Oberfläche meiner Wahrnehmungen zurück und schließlich öffnete ich die Augen. Paul hatte sich über mich gebeugt, mein Kopf lag in seiner rechten Armkuhle, während die Linke damit beschäftigt war, mit dem Bettzipfel den Schweiß von meiner Stirn zu wischen. Unwillig schob ich ihn von mir.
    „Es geht schon, danke.“
    Paul ließ die Hand sinken. „Du hast schlecht geträumt. Von Marc, nicht wahr?“
    Wieder einmal.
    „Wie spät ist es?“, versuchte ich, der Antwort auszuweichen.
    „Ein Uhr nachts. Ich bin aufgewacht, weil du geschrieen hast. Seinen Namen geschrieen, immer wieder, und du hast geweint.“
    „Scheiße.“
    „No Problem.“
    Ich wälzte mich herum, aus seiner Umarmung heraus, und er ließ mich bereitwillig los. Ich war ihm dankbar dafür, dass er mich nicht mit irgendwelchen Fragen oder Vorhaltungen aufhielt, aber das Schlimmste kam ja jetzt erst noch.
    „Ich muss gehen, Paul.“
    Er zuckte zusammen, und sein verständnisloser Blick strafte sein scheinbares Einverständnis Lügen. Dann fragte er doch.
    „Wohin willst du?“
    „Zu Marc.“
    Er sog scharf die Luft ein, und ich spürte, wie er innerlich  zusammenzuklappen drohte wie ein Kartenhaus.
    Rasch setzte ich nach: „Ich muss meine Reise beenden, Paul, jetzt, sofort, oder ich schaffe es niemals.“
    „Ich verstehe.“
    Den Teufel tust du! Ich rappelte mich mühsam auf, während er leichthändig die Bettdecke zurückschlug und die Beine aus dem Bett schwang.
    „Ich komme mit dir.“
    Wie von der Tarantel gestochen fuhr ich herum. „Nein! Du bleibst hier!“
    Zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, wurde Pauls Stimme laut; sein heftiger Tonfall schien fast mein Trommelfell zu vergewaltigen.
    „Sag DU mir nicht, was ich tun soll! Du hast die Situation nicht mehr im Griff, du hast dich nicht mehr im Griff, seit langer Zeit schon. Ich kann dich jetzt nicht allein gehen lassen, oder glaubst du, ich will morgen deine Einzelteile von der Straße auflesen?!“
    Seine Worte, in ehrlicher Besorgnis gesprochen, lähmten mich bis in die letzte Faser meines nicht mehr vorhandenen Beines. Er hatte keine Ahnung, wie tief er mich mit seiner Angst getroffen hatte.
    Minutenlang musterten wir uns in quälendem Schweigen. Viel konnte ich von ihm in der Dunkelheit nicht sehen, aber die wilde Entschlossenheit und der stahlharte Trotz, die mir mit seiner Stimme so plötzlich entgegengesprungen waren, ließen sein sommersprossiges Gesicht scheinbar aufglühen. Mir blieb nichts anderes übrig, als einzulenken.
    „Ich muss an die Küste. An das Ende der Landzunge, du weißt schon. Wo der Leuchtturm steht.“
    Wenn ihn meine genauen Kenntnisse der Region überraschten, so ließ er es sich in diesem Moment nicht anmerken. Ich hatte bisher mit keiner Silbe erwähnt, dass ich schon einmal hier gewesen war, auf dieser Insel, in Dublin, und eben auch an jener Steilküste. Aber ich gab uns beiden nicht die Zeit für lange Erklärungen. Ich hielt es nicht mehr aus. Ich musste zu Ende bringen, was vor fünf Jahren begonnen hatte.
       
     
    Eine gute Stunde später erreichten wir das Ende der Welt. Wie ein betrogener, im Moment höchster Begierde verlassener Phallus erhob sich die fahle Silhouette des Leuchtturms vor dem nachtschwarzen, sternendurchwirkten Firmament. In seiner Spitze blitzte unaufhörlich ein helles Licht auf, schwenkte einen goldenen Lichtkegel aufs Meer hinaus, der sich wohl ungesehen in den tiefschwarzen Weiten vor sich verlor - tausend Rufe in die Unendlichkeit hinaussandte und doch niemals eine Antwort erhielt.
    Ganz langsam ging ich auf die Klippen zu. Es war nicht nur meine Furcht vor diesem Ort, die mich zögern ließ; es fiel mir unglaublich schwer, mit dem Prothesenfuß über das weiche, nachgiebige Gras zu laufen. Bei jedem Schritt gab die Nabe unter mir nach, sodass ich schon nach wenigen Schritten mit dem Gleichgewicht zu kämpfen hatte und beinahe weggeknickt wäre. Das hatte ich nicht bedacht, und zu meiner Angst gesellte sich wieder jener wohlvertraute Hass auf mich selbst und das, was an mir war und nicht zu mir gehörte. Nach ein paar Schritten blieb ich hilflos stehen. Dabei hätte ich meine eigene Schmach in die Dunkelheit schreien mögen. Paul bemerkte mein Zögern sofort und griff mich ohne eine Frage wie selbstverständlich unter,

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