Im Schatten des Drachen
um, der mit seinen gestreiften Tapeten, bieder schweren Holzmöbeln und großgemusterten Stuhlpolstern mehr mit einem Zimmer im England der sechziger Jahre, denn mit der in die Selbstständigkeit aufstrebenden, irischen Nation gemein hatte. Dann wandte ich mich um und ging hinaus ins Foyer. Ich musste noch meine Rechnung bezahlen. Gott und der Hotelmanager allein wussten, was mich diese paar Tage hier gekostet hatten, aber im Grunde war jede einzelne Minute es wert gewesen.
Ich las die Rechnung durch, während der Angestellte den Check-out organisierte. Plötzlich spürte ich eine Hand auf meiner Schulter. Die Leichtigkeit, mit der sie sich auf mein Hemd legte, die Kühle, die aus den Fingerspitzen sanft und heilend bis zu meiner Haut vordrang, und der leise Duft nach golden glitzernden Meereswellen ließ mich sofort wissen, wer hinter mir stand. Für einen Moment wusste ich nicht, welchem der tausend Impulse in meinem Körper ich nachgeben sollte: mich umdrehen und ihn festhalten oder lieber in Reglosigkeit erstarren, um den Zauber nicht zu brechen und ihn damit ein zweites Mal zu verjagen.
Doch die Hand auf meiner Schulter griff sanft zu und zog mich wie von selbst herum. Schließlich konnte ich es nicht mehr verhindern, dass mein Blick in sein Gesicht fiel - und ich sah darin nichts als ein weiches, beinahe kindlich unschuldiges Lächeln. Das sich angesichts der Überraschung in meinen Zügen noch verstärkte, während er mit gespielter Entrüstung leise schimpfte.
„Du solltest wirklich langsam lernen, die Nachrichten zu verstehen, die man dir sendet.“
Sein Handy lag noch in seiner Hand, als hätte er es eben benutzt. Umständlich fingerte ich nun doch mein eigenes hervor und rief die SMS von vorhin auf: ‚Ich werde auf dich warten - im Foyer.’
„Du bist also hier“, stellte ich überflüssigerweise fest und unterdrückte dabei nicht den erleichterten Seufzer, der sich heimlich aus meiner Brust stahl. „Wie geht es jetzt weiter?“
Paul zuckte mit der Schulter. „Ich habe keine Ahnung, aber offensichtlich hast du einen Plan, und ich werde dich begleiten, wohin auch immer er dich führt.“
Sofort drohten mich wieder die Zweifel an seinen Worten zu überschwemmen wie die riesigen Woge von heute Nacht.
„Warum tust du das, Paul? Warum willst du bei mir bleiben, obwohl ich doch so schwierig ...“
Mein Blick glitt zu meinem Bein hinab.
„Schsch ...“, machte er und legte einen Finger auf meine Lippen. Für einen Moment irritierte mich diese intime Geste hier in aller Öffentlichkeit, und ich fühlte den Blick des smarten Hotelboys in meinem Nacken wie das Kitzeln einer kalten Schwertklinge. Pauls Gesicht kam ganz nahe an meines heran, und jetzt sah ich wirklich jede einzelne der Sommersprossen auf seiner Nase, die wie wild vor mir durcheinander zu tanzen schienen, während er antwortete.
„Ich habe nie gesagt, dass irgendetwas mit uns beiden einfach sein wird. Aber ich will mit dir zusammen aus diesen verdammten Strudeln wieder auftauchen - aus deinem, aus meinem, und aus unser beider.“
Ich nickte langsam, und während ich seine Hand von meiner Schulter in meine gleiten fühlte, hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass wir in die richtige Richtung schwammen. WIR. Irgendwie hatte dieses Wort gerade eine andere Bedeutung gewonnen.
Loop Head, 09. Mai 2002
Fast zwei Wochen lang waren sie nun schon unterwegs, doch noch immer schien Marc des Reisens nicht müde zu sein, ließ sich immer wieder einen neuen Abstecher, ein ferneres Ziel einfallen, um ihre Rückkehr noch um ein paar Stunden oder Tage hinauszuzögern. Doch Johannes wusste, dass sie den Wendepunkt bald erreicht, wenn nicht sogar bereits überschritten hatten. Seine Nerven waren wie Drahtseile gespannt, und wenn nicht bald etwas geschah, sich nicht bald eine Gelegenheit bot, würden sie zerreißen und sein Inneres zerfetzen.
Trotz allem war es eine schöne Reise gewesen, mit dem Motorrad kreuz und quer über die grüne Insel, immer auf der Suche nach einem noch idyllischeren, romantischeren Plätzchen zum Ausruhen und Erholen. Die kräftezehrende Klausurzeit war vorüber, und nach der schier endlos anmutenden Paukerei gönnten sie sich diese zwei letzten Wochen des Semesters, um wieder zu sich selbst zu finden. Soweit das möglich war. Johannes kam es eher wie eine Flucht vor, und das nicht nur, weil weder er noch Marc einen Motorradführerschein hatten. Marc hatte sich die Kiste - ein
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