Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Schatten des Drachen

Im Schatten des Drachen

Titel: Im Schatten des Drachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A. Leuning
Vom Netzwerk:
richtig heißer Ofen von einer Suzuki, das musste Johannes sogar in seiner Unkenntnis zugeben - von einem Kommilitonen geliehen, als Gegenleistung zu einem geschmuggelten Spickzettel im Toilettendeckel während der letzten Prüfung. Das schlechte Gewissen fuhr im nicht vorhandenen Sozius mit, aber Marc bekam die hundertfünfzig PS recht schnell in den Griff. Eine Satteltasche voll Klamotten, eine Decke, eine ADAC-Straßen- und die Kreditkarte von Marcs Vater - mehr nahmen sie nicht mit. Johannes fragte nicht, schmiegte sich nur dicht an den warmen Körper vor sich  und genoss das Vibrieren der harten Bauchmuskeln unter seinen Händen, als Marc zum ersten Mal die Maschine anwarf und Gas gab.
    Das lag jetzt zehn Tage und Hunderte von Kilometern zurück. Sie hatten viele hübsche Fleckchen gesehen, Wunderbares erlebt, Verrücktes getan. Wie zwei Möwen hatten sie sich in den launischen Frühlingswinden der Insel treiben lassen, waren über saftig grüne Wiesen voller Schafstupfen getaumelt, an von der wilden Brandung umrauschten Küsten entlanggebraust und durch die kargen Höhenzüge des Burren getourt. Sie hatten tosende Wasserfälle und pittoreske Städtchen besucht, deren bunte Häuserfassaden sich gegenseitig mit Charme und Beschaulichkeit auszustechen versuchten. Sie hatten vor himmelblauen Seen gelegen und Gänseblümchenköpfchen gezählt, dem Raunen der Steine alter, scheinbar vergessener Klosterruinen gelauscht und dabei die schwarzen, nimmersatten Raben in den Mauernischen mit Kekskrümeln gefüttert. Es gab immer etwas, das zu tun sie zurückhielt vor dem, was unweigerlich passieren würde.
    Doch nun waren sie am Ende angekommen. Am Ende der Welt, so schien es Johannes. Sie waren eine lange, staubige Straße entlanggefahren, mehr eine Schotterpiste denn ein Weg, der scheinbar ins Nichts führte. Erst in letzter Minute hatte sich der Leuchtturm vor ihnen offenbart, zu dessen Füßen Marc schließlich das Motorrad aufbockte.
    Sie gingen schweigend an der niedrigen, weißen Steinmauer entlang, versanken barfuß bis zu den Knöcheln in den wunderbar weichen, dichten Grasbüscheln. So etwas hatte Johannes noch nie gefühlt, und auch Marc drehte sich zu ihm um und pfiff begeistert durch die Zähne, verstummte jedoch, als sie den Rand der Klippen erreichten. Vor ihnen tat sich unvermittelt der Ozean auf, und angesichts der majestätischen Erhabenheit dieser Naturgewalt blieben sie voller Ehrfurcht reglos stehen.
    Ein riesiger, unendlicher Ballen türkisblauen Samtes, durchwirkt mit Millionen funkelnder Goldsplitter, wogte vor ihnen im Takt einer für sie unhörbaren Musik auf und ab; das kraftvolle Rauschen der Brandung zu ihren Füßen schien den Rhythmus vorzugeben zu diesem seltsamen Tanz. Möwen zogen ihre Kreise durch die von Gischt und Hitze flirrende Luft, ihre Schreie klangen leise wie das Zirpen unscheinbarer Grillen an die vom Wind umtosten Ohren. Dennoch umgab sie eine beinahe unwirkliche Stille, denn kein menschlicher oder sonst irgendwie unnatürlicher Laut durchbrach diese perfekte Synchronisation der Urgewalt.
    Fasziniert blickte Johannes auf das Meer hinab und hinaus bis weit zum Horizont, der sich tatsächlich vor seinen Augen zu krümmen schien. Ein Gefühl von Freiheit und Lebenslust durchströmte ihn mit jedem Windstoß, der durch sein Haar fuhr und auch Marcs Locken zu einem wilden Tanz herausforderte. Noch nie hatte er sich all dem so nahe gefühlt: der Natur, der Schöpfung, seinem Ursprung. Fast schien es ihm, als pulsierte da unten in den dunkelsten Tiefen des Ozeans ein riesiges Herz - das Herz der Welt.
    Dachten sie beide im gleichen Moment dasselbe, oder war es Schicksal, dass sich ihre Hände in diesem Augenblick berührten, sich ihre Finger verschränkten, ihre Schultern aneinander lehnten, während sie beide  auf das Meer hinausblickten? Nach vielen Sekunden staunenden Schweigens über das alles hörte Johannes Marc flüstern:
    „Unglaublich ... diese Kraft, diese ... Eleganz ... so edel ... es ist zum Sterben schön, findest du nicht?“
    Johannes wandte den Blick und musterte Marcs Profil, das braungebrannte Gesicht mit dem dunklen Drei-Tage-Bart unter der schwarzen, quirligen Mähne, den muskulösen Hals, der sich im Ausschnitt des Poloshirts verlor.
    „Ja“, antwortete er einfach.
    Und als Marc ebenfalls den Kopf drehte, um ihn anzublicken, verlor er sich in dessen blauen Augen.
    Die plötzlich eintretende Stille war beinahe gespenstisch - als hielte der Ozeanriese vor ihnen

Weitere Kostenlose Bücher