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Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Titel: Im Schatten des Feuerbaums: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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fürs Mittagessen war kurz, das Licht schlecht, und der Dunst von Baumwolle und anderen Stoffen machte die Luft schwer. Weder gab es in den meisten Schneidersalons anständige Toiletten, noch bekamen sie frisches Wasser zu trinken. Und wie auch in den Tabakfabriken waren die Frauen gezwungen, nach der Arbeit – unbezahlt! – den Boden aufzuwischen. Trotz aller Mühen verdienten sie nur einen Peso am Tag – immerhin ein wenig mehr als jene Frauen, die Schneider-, Bügel- oder Wascharbeiten von zu Hause aus verrichteten und sich, obwohl sie auch oft auf viele Stunden Arbeitszeit kamen, mit siebzig Centavos zufriedengeben mussten. Bei diesen Frauen war es fast unmöglich, einen Streik zu initiieren, denn eine jede arbeitete für sich, und sie waren nicht in Gewerkschaften zusammengeschlossen. Etwas anders sah es bei den Näherinnen in den Fabriken und Salons aus, die sich immerhin manchmal organisierten. Doch ihre Gewerkschaft galt als zerstritten und nicht eben handlungsstark.
    Als sie sich mit Rebeca nun auf den Weg in die Schneiderei machte, fragte sie darum, warum die Frauen ausgerechnet jetzt bereit waren, an einem Strang zu ziehen.
    Rebecas Blick war grimmig entschlossen. Wieder einmal trug sie die übliche Hose, und die Haare waren noch kürzer als früher. Als Victoria sie von der Seite musterte, dachte sie einmal mehr, wie schön sie war und wie faszinierend die schrägen Augen. Doch zugleich entgingen ihr die dicken Schwülste unter den Augen nicht. Den Schmelz der Jugend suchte man vergebens an ihr, verlebt sah sie vielmehr aus – nicht wie jene Menschen, die sich zu Tode schuften mussten, sondern wie jene, die zu viel tranken.
    »Und welches Ziel hat der Streik?«, fragte sie, und nachdem Rebeca ihr die Antwort auf diese Frage schuldig blieb, fragte sie nach: »Fordern sie mehr Lohn? Oder bessere Arbeitsbedingungen?«
    Rebeca sagte wieder nichts, was eigentlich merkwürdig war. Bei Anlässen wie diesen hielt sie oft glühende, mitreißende Reden, die vor Hass auf die Reichen nur so trieften.
    »Heute war wieder eine Frau mit Tuberkulose in der Klinik«, berichtete Victoria, um sie zum Sprechen zu bringen. »Ich weiß nicht, woran es liegt, aber ich habe das Gefühl, dass diese Krankheit am meisten bei den Frauen verbreitet ist, die in der Herstellung von Männeranzügen arbeiten. Ob es einen Zusammenhang gibt? Ob sie vielleicht gar mit giftigen Substanzen arbeiten?«
    Immer noch kam keine Reaktion von Rebeca; an deren ungewohnt steifen Schritten erkannte Victoria nur, dass sie sehr angespannt sein musste.
    Sie runzelte die Stirn, denn es war befremdlich, Rebeca nicht vollkommen souverän zu erleben, aber sie verkniff sich einen Kommentar und fuhr stattdessen fort: »Es ist schrecklich, dass die Arbeitgeber jede Form von Krankheit als Schwäche betrachten, die es zu bestrafen gilt. Und dass die Aufseher, die ohnehin das Sechsfache verdienen, nie Mitleid zeigen und Schonung ermöglichen, sondern stets mit Anzeige drohen. Und das, obwohl die Bekleidungs- und Nahrungsindustrie ohne die vielen Mitarbeiterinnen gar nicht existieren könnte.«
    Endlich meldete sich nun auch Rebeca zu Wort: »Die feinen Mittelklassefrauen dagegen, die als Sekretärinnen oder Telegraphinnen arbeiten, haben zurzeit ganz andere Sorgen. Sie fordern, dass sie sich während der Menstruation drei Tage freinehmen können, diese verwöhnten …«
    Mitten im Satz hielt sie inne. Offenbar hatten sie das gesuchte Gebäude erreicht … ein mehrstöckiges Haus, das nicht inmitten eines Elendsviertels stand, sondern in der Nähe der Alameda. Von der prächtigen Fassade ließen sich keine Rückschlüsse auf etwaige schlechte Arbeitsbedingungen ziehen, doch als Victoria ihren Kopf in den Nacken legte und nach oben blickte, konnte sie sich vorstellen, worunter die Näherinnen in diesem Salon zu leiden hatten: Im letzten Stock waren die Fensterluken geradezu winzig – ein Zeichen, dass die Räume dort oben sehr niedrig waren. Zwar gab es unmittelbar unter dem Dach am meisten Licht, aber wahrscheinlich waren es auch die stickigsten Räume.
    Sie senkte den Kopf und blickte sich zunehmend verwundert um. Wenn gewöhnlich gestreikt wurde, versammelten sich die Mitarbeiter vor oder im Innenhof des jeweiligen Gebäudes. Die Gewerkschaftsvertreter verteilten Flugzettel oder hielten eindringliche Reden, um die Arbeiter darauf einzuschwören, nicht nachzugeben. Vorerst aber war Jiacinto der Einzige, der ganz gemächlich auf sie zuschritt – und

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