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Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Titel: Im Schatten des Feuerbaums: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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hinzunehmen.
    Nie verlor Aurelia ihre Scheu vor Alicia, und auch nachdem sie monatelang mit ihr unter einem Dach lebte, hatte sie nicht das Gefühl, sie besser zu kennen und hinter die Maske der tugendreichen, gleichwohl abgestumpft anmutenden Dulderin zu schauen. Unauffällig horchte sie die Dienstboten nach ihr aus, bekam jedoch nur bestätigt, was sie schon wusste. Dass man Alicia nie unbeherrscht gesehen hatte und dass es nur drei Dinge gab, bei denen sie auf ihrem Willen bestanden hatte, anstatt den Wünschen des Gatten nachzugeben: Sie weigerte sich, Englisch zu sprechen, gab den Söhnen spanische Namen und hielt an ihrer Religion fest.
    Als Aurelias Leib sich immer mehr rundete, war es nicht länger schicklich, zur Kirche zu gehen und an dem heiligen Ort der Welt zu bekunden, dass man der Fleischeslust erlegen war. Sie fühlte sich in ihrem Körper nach wie vor wohl, schlief aber mehr als früher und träumte wirr – manchmal von Patagonien, wo sie sich und Tiago im Wind stehen sah. Zumindest glaubte sie, dass es Tiago war, der da an ihrer Seite stand – ganz sicher konnte sie sich nicht sein, denn sie konnte sein Gesicht nicht erkennen, so dicht war der Staub, den der Wind aufwirbelte. Sie bekam kaum Luft und verging vor Angst, der Wind könnte Tiago fortwehen. Zugleich hatte sie ein schlechtes Gewissen – denn trotz dieser Angst fühlte sie sich ganz ohne Mieder und mit offenem Haar so befreit.
    Jedes Mal erwachte sie mit einer Mischung aus Panik und Sehnsucht, und gerne hätte sie sich in solchen Momenten an Tiago geschmiegt. Doch der kam erst am Morgen, um ihr das Frühstück ans Bett zu bringen, und wenn er sie zugleich besorgt und freundlich anlächelte, brachte sie es nicht übers Herz, ihre wahren Gefühle preiszugeben. Was sie nicht verbergen konnte, war, dass sie am Morgen nun meist schweißgebadet erwachte.
    »Du solltest dich schonen«, meinte Tiago, »bleib im Bett, wenn du willst!«
    »Aber das will ich doch gar nicht!« Es fiel ihr schwer genug, hinzunehmen, dass sie nun, anderthalb Monate vor der Geburt, das Haus nicht mehr verlassen sollte. Unerträglich war ihr die Vorstellung, die nächsten Wochen ausschließlich in ihrem Gemach zu verbringen!
    »Ich fühle mich gut«, fuhr sie fort, »ich bin nicht krank. Warum kann das Leben nicht einfach weitergehen wie zuvor?«
    »Du bist guter Hoffnung, und in diesem Zustand …«
    »Ich weiß, ich weiß, in diesem Zustand darf ich mich nicht mehr den Leuten zeigen. Aber ich will auch gar nicht in die Oper gehen oder zu Dinnerpartys oder in die Kirche. Ich möchte einfach nur … raus.«
    Ihre letzten Worte klangen nahezu panisch, obwohl sie vieles, was ihr obendrein durch den Kopf ging, nicht sagte.
    Nur raus hier … aus diesem düsteren Haus … aus diesem Gefängnis …
    Tiago musterte sie entsetzt, und sofort bereute sie es, sich nicht besser im Griff zu haben.
    »Ich würde dir so gerne Gesellschaft leisten, aber du weißt …«
    »Ich weiß, du bist beschäftigt«, brachte sie den Satz schnell zu Ende. Er erzählte ihr manchmal von seinem Jurastudium und gab vor, dass es interessanter wäre, als er gedacht hatte. Recht glauben konnte sie das nicht, aber ihn dazu zu bringen, es zuzugeben, wollte sie auch nicht.
    »Vielleicht könntest du mit Mutter den Schneidersalon besuchen?«, schlug er vor.
    Auf diese Idee war Aurelia noch nicht gekommen. Normalerweise kam die Schneiderin hierher, um neue Kleider anzupassen – in deren Salon nicht weit von hier war sie erst ein- oder zweimal gewesen. Es war ein Ort, in dem man auf keine Männer treffen würde, die sich über ihren Leibesumfang mokieren könnten.
    »Ich habe genug Kleider« murmelte sie.
    »Aber das Kind noch nicht!«
    Aurelia nickte. Eigentlich war es ihr egal, wohin sie aufbrechen würde – Hauptsache, es brachte etwas Abwechslung. Dafür nahm sie sogar in Kauf, von Alicia begleitet zu werden.
    Sie wollte sich erheben, doch Tiago drückte sie sanft aufs Kissen zurück.
    »Aber erst trinkst du deine heiße Schokolade!«

    Victoria war sich später nicht sicher, ob sie trotzdem oder erst recht dabei gewesen wäre, wenn sie gewusst hätte, wie der Streik am Ende ausartete. Zunächst zählte nur, dass sie gemeinsame Sache mit Jiacinto machte – und natürlich war sie mit gerechtem Zorn dabei, als sie sich in Erinnerung rief, was die Arbeiterinnen in der Textilherstellung alles zu erdulden hatten. Bis zu zehn Stunden mussten sie täglich hinter den Nähmaschinen sitzen, die Pause

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