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Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Titel: Im Schatten des Feuerbaums: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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wenn in seinen Augen auch das begehrliche Glitzern lag, wie immer, wenn gewalttätige Ausschreitungen bevorstanden, fühlte Victoria doch sofort, dass hier irgendetwas aus dem Ruder lief.
    »Was … was geht hier vor?«, fragte sie und drehte sich in sämtliche Richtungen. Immer noch war weit und breit keine einzige Näherin zu sehen.
    Jiacinto zwinkerte ihr zu, und wie immer pochte ihr Herz augenblicklich schneller. »Ich hätte ja nicht gedacht, dass du unter … diesen Umständen mitmachst«, erklärte er halb spöttisch, halb anerkennend.
    Victoria freute sich über das Lob – und war zugleich noch mehr beunruhigt. »Unter welchen Umständen?«
    Rebeca wirkte nicht länger angespannt. Sie hakte sich bei Jiacinto unter und schmiegte ihren Körper an seinen, wie sie es so oft bei ihren Brüdern tat. »Ich fürchte, du musst unser Mädchen aufklären …«
    Jiacinto jedoch sagte nichts. Er strich Rebeca neckend über die Wangen, löste sich dann von ihr und schritt durch einen kreisrunden Durchgang in den Innenhof des Gebäudes. Rebeca und Victoria folgten schnell, und hier nun war es alles andere als leer: Mehrere Dutzend Männer standen beisammen, manche mit den blauen Hemden der Arbeiter bekleidet, andere in dreckige Lumpen gehüllt – Letztere wohl Gañanes, unausgebildete Arbeiter, die oft nur für einen Tag angestellt wurden und unter denen es viele Unruhestifter gab.
    Victoria suchte nach vertrauten Gesichtern: Sie erkannte ein paar Freunde von Jiacinto, Anarchisten wie er, die sie schon einmal in der Wohnung der Carrizos getroffen hatte.
    »Wo sind die Näherinnen?«, fragte sie.
    Jiacinto drehte sich zu ihr um, zwinkerte wieder vertraulich und deutete nach oben. »An den Nähmaschinen natürlich.«
    »Aber wenn sie doch streiken …«
    Er zuckte mit den Schultern. »Ich fürchte, sie wissen noch nicht, dass sie das tun. Das heißt, in diesem Augenblick, glaube ich, erfahren sie es.«
    Victorias Verwirrung wuchs. »Ich verstehe nicht …«
    Rebeca wirkte ungeduldig, aber Jiacinto erklärte freundlich, als hätte er alle Zeit der Welt dafür: »Die Näherinnen sind allesamt Feiglinge. Sie würden nicht wagen, von sich aus zu streiken; sie würden die Welt nicht auf ihre Arbeitsbedingungen aufmerksam machen. Also mussten wir etwas nachhelfen.«
    Victoria fuhr herum, sah nun, dass die vielen Männer nicht einfach herumlungerten, sondern sich vor dem Ausgang des Gebäudes und vor den Fenstern der unteren Stockwerke postierten. Allmählich begriff sie, was hier vor sich ging.
    »Die Männer umstellen das Gebäude!«, rief sie schrill. »Wollen sie die Frauen hier etwa gefangen halten? Wie Geiseln?«
    »Sie haben es nicht in erster Linie auf die Näherinnen abgesehen«, gab Jiacinto zu, »die trifft es zwar zufällig auch. Aber im Grunde wollen wir vor allem den werten Kundinnen einen Schrecken einjagen.«
    Rebeca lachte auf, Victoria hingegen packte die nackte Furcht. »Seid ihr wahnsinnig?«, schrie sie. »Das ist kein Streik, das ist …«
    »Das ist eine Möglichkeit, die Aufmerksamkeit der ganzen Stadt auf uns zu ziehen«, fiel Jiacinto ihr ins Wort. »Denk dir, das wird lustig! Wie die noblen Damen, die hergekommen sind, um ihre Kleider anzupassen, ganz plötzlich einer Horde Arbeiter gegenüberstehen und nicht an ihnen vorbeikönnen.«
    Victoria schüttelte den Kopf. »Ihr könnt euch doch nicht gegen den Willen der Näherinnen für ihre Rechte einsetzen! Noch dazu auf diese Weise!«
    »Und ob wir das können. Du wiederum kannst gerne gehen, wenn du nicht mitmachen willst.«
    Sprach’s, wandte sich ab und verschwand im Gebäude, um in Begleitung einiger Männer nach oben zu stürmen. Victoria war sich nicht sicher, was genau sie dort planten. Kurz wollte sie es auch nicht wissen, wollte auf der Stelle kehrtmachen und gehen. Doch dann sah sie, wie es in Rebecas Augen triumphierend aufblitzte, und sie wusste, dass sie es sich nicht entgehen lassen konnte: diese fiebrige Aufregung, diesen Nervenkitzel, diese Befriedigung, etwas Verbotenes zu tun – und etwas, das sie mit Jiacinto einte.
    Als Rebeca auf den Eingang zuging, folgte sie ihr, und auch wenn sie vor der ersten Stufe noch einmal zögerte, lief sie danach entschlossen die Treppe hoch.
    Die Luft war schwer und drückend, und als sie im letzten Geschoss ankamen, war Victoria schweißnass. Stimmengewirr drang ihnen entgegen – aufgeregte Rufe, beschwichtigendes Gemurmel, empörte Fragen. Die Näherinnen, ihre Aufseherinnen, vielleicht sogar

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