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Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Titel: Im Schatten des Feuerbaums: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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und ich kann mir gut vorstellen, dass der mit sich reden ließe, vorausgesetzt, du könntest dich wiederum bei Tiago für ihn einsetzen und um einen kleinen Gefallen bitten.«
    Sein Lächeln war freundlich, aber das Funkeln in seinen Augen wirkte irgendwie … bedrohlich. Als Aurelia seinen Blick erwiderte, war ihr sofort klar, dass ihm Victoria herzlich egal war, er jedoch ihre einstige Freundschaft dazu nutzen wollte, die eigene Freundschaft mit Tiago zu festigen. Und zugleich Aurelia vor Augen halten, dass er es gut mit ihr meinte.
    »Nun, was hältst du davon? Ich werde gewiss nichts Ehrenrühriges verlangen. Mein Vater im Übrigen auch nicht. Im Gegenteil, es geht um eine gute Sache, um nichts Geringeres als ein Privatkrankenhaus. Am Ende könnte auch Victoria daraus Nutzen ziehen, indem sie dort eine gut bezahlte Arbeit findet.«
    Aurelia senkte den Blick. Plötzlich zählte nicht mehr, was zwischen Andrés und ihr vorgefallen war, und auch nicht, in welche Notsituation Victoria geraten war – nur die Gedanken an das alte Leben. Die Erinnerungen schnürten ihr die Kehle zu, und jenes Gefühl, das sie vorhin vor dem Spiegel überkommen hatte, kehrte zurück – stärker, eindringlicher als zuvor: das Gefühl, dass in ihrem Leben etwas fehlte, dass sie ihre Tage mit zu wenig Sinnvollem ausfüllte, dass die Zukunft nicht länger verheißungsvoll war, sondern nur Wiederholung von leeren Ritualen verhieß. Das Gefühl auch, dass sie etwas unwiederbringlich verloren hatte: die Freundschaft mit Victoria – und ihre eigene Leidenschaft.
    Immer enger wurde die Kehle, und obwohl sie verzweifelt dagegen ankämpfte, konnte sie die Tränen nicht zurückhalten. Ein Schluchzen brach sich seine Bahn, und als die ersten heißen Tränen über ihre Wangen strömten, wusste sie, dass sie diese Flut nicht würde aufhalten können, dass sie sie viel zu lange unterdrückt hatte, sich viel zu lange eingeredet, alles sei gut, solange Tiago sie liebte.
    »Gütiger Himmel!« Andrés war aufgesprungen. In seinem Gesicht stand nichts mehr von Gönnerhaftigkeit und Triumph, nur Verwirrung. »Aber Aurelia, was ist denn los?«, rief er. »Ich wollte doch nicht … Es war nicht meine Absicht …«
    »Oh, es ist nicht deine Schuld, es ist nur so, dass …«
    Das Schluchzen zerhackte ihre Worte, alsbald konnte sie nicht weitersprechen und hätte auch nicht gewusst, was sie sagen sollte. Hinter dem Schleier von Tränen sah sie, wie Andrés zu ihr trat, sich vor ihren Stuhl kniete. Obwohl sie seine Miene nicht sehen konnte, fühlte sie, dass er nicht Schadenfreude empfand, nur … Mitleid. Und kurz fühlte sie nicht die übliche Scheu, sondern Erleichterung, dass einer bei ihr war, der verstand, was in ihr vorging, der ganz genau wusste, wie hoch der Preis ausfallen konnte, wenn man seinen angestammten Platz auf der Welt verließ.
    »Aurelia, so wein doch nicht!«, stammelte er hilflos.
    Sie konnte nicht aufhören zu schluchzen, und sie wehrte sich nicht, als er ihre Hand nahm, sie drückte, sie schließlich an sich zog und mit leisem Beben ihr verweintes Gesicht an seiner Brust barg.

    Tiago hasste die Stunden im Club – wobei er, genau genommen, alles hasste, was er an der Seite seines Vaters erlebte oder wozu dieser ihn drängte. Meist gelang es ihm, den Widerwillen irgendwie zu schlucken und Engagement an den Tag zu legen, und zumindest bei den vielen Praktika, die er gemacht hatte – fast alle an den großen chilenischen Banken, der Banco Mobiliario oder der Banco Nacional de Chile –, konnte er sich zwischendurch vormachen, dass ihn nicht nur Gehorsam, sondern auch eigener Ehrgeiz trieb, mehr über die Wirtschaft zu lernen. Im Club aber fühlte er sich meist wie gelähmt. Hier galt es, einfach nur zuzuhören, wie Männer sich stundenlang über die Politik unterhielten, dabei Brisca spielten, Scotch tranken oder dinierten. Im Club der Radikalen gab es oft hitzige Streitgespräche – im konservativen Club Union, den William natürlich bevorzugte, war das jedoch verpönt und jeder Wortwechsel unendlich langweilig. Nun, auch das Studium, das Tiago – nicht zuletzt wegen des Drucks, den sein Vater auf die Professoren ausübte – im Eiltempo von zwei Jahren abgeschlossen hatte, war langweilig gewesen. Jene nüchterne, klare Welt der Paragraphen hatte nichts zu bieten, um seine Sehnsucht nach der schönen, bunten Welt der Malerei zu vertreiben. Aber das Lernen war nicht nur Mühsal gewesen, auch Ablenkung und Nahrung für

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