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Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Titel: Im Schatten des Feuerbaums: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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auswählen, einen Kondolenzbrief an Señora Carvallo schreiben, die kürzlich ihren Mann verloren hatte – und meist war Aurelia nicht mutig genug, ihr zu trotzen, auch heute nicht.
    Aurelia runzelte kaum merklich die Stirn. So viele Stunden waren damit angefüllt, ihre Schönheit zu pflegen – und so viele nichtige Stunden verrannen, diese Schönheit zur Schau zu stellen. In den ersten Ehejahren hatte all das sie noch amüsiert, jetzt waren sie meist schrecklich langweilig – die Bälle, bei denen Charleston oder Foxtrott getanzt wurde. Oder die Besuche im Kinematographen, der ähnliche Bedeutung erlangt hatte wie Oper und Theater. Um mitreden zu können, musste man all die Filme gesehen haben, die aus Europa oder Nordamerika kamen, und Aurelia empfand die schnelle Bilderfolge als durchaus faszinierend. Aber wenn hinterher beim Abendessen darüber gesprochen wurde, wurde nie eine ernsthafte Diskussion daraus. Es ging nur um die Bekräftigung, dass man bei dergleichen dabei gewesen war, weil man es sich leisten konnte, und darüber zu reden schien größeren Wert zu haben, als es zu erleben. Gleiches galt auch für die Landung des ersten Flugzeugs in Santiago, deren sie Zeugin geworden war, die prächtigen, aber langatmigen Militärparaden oder die Fiestas Patrias am 19. September, wo der Unabhängigkeit Chiles gedacht wurde. Auch wenn die Reichen im Sommer an die Strände von Viña del Mar strömten, dann zählte weniger der Wunsch nach Erholung, sondern danach, von möglichst vielen gesehen zu werden.
    Aurelia hatte sich anfangs auf das Meer gefreut. Auf den blauen Horizont zu starren gab ihr das Gefühl von Weite, wie sie es von Patagonien her kannte. Doch wenn ihr Blick auch in die Ferne schweifen konnte, so war ihr Körper von vielen anderen eingekesselt. Schon in der Bahn gab es selbst in den Waggons der ersten Klasse stets Gedränge und Gewühl – am Strand dann umso mehr. Nie war es still, stets wurde geklatscht, intrigiert, wurden Gerüchte in die Welt gesetzt, Menschen verkuppelt und Liaisons verurteilt – und all das war in den neuartigen Illustrierten wie Sucesos, Zig-Zag oder Selecta nachzulesen.
    Auch in Aurelias Zimmer stapelten sich die Zeitschriften, und zunächst hatte sie diese noch interessiert gelesen, nicht zuletzt weil sie – ganz nach amerikanischem Vorbild – sehr bunt waren. Doch irgendwann stieß der Inhalt sie einfach nur noch ab. Einmal hatte sie bei Tiago eine Zeitschrift entdeckt, die auf den ersten Blick ähnlich bunt gestaltet war, doch als sie sie aufschlug, erkannte sie, dass es darin nicht um die neueste Mode ging, sondern um … Kunst und Literatur. Revista de Artes y Letras hieß das Magazin und war schon vor einigen Jahrzehnten vom berühmten Maler Ramón Subercaseaux gegründet worden. Sie verschlang einen Artikel über den französischen Bildhauer Auguste Rodin und dessen Atelier im Hôtel Biron, wo er an seinem Lebenswerk, dem Höllentor, arbeitete, doch als Tiago plötzlich im Raum auftauchte, schlug sie die Zeitschrift hastig zu und versteckte sie hinter ihrem Rücken, als hätte er sie bei etwas Verbotenem ertappt.
    »Was machst du denn da?«, fragte, obwohl er gesehen haben musste, was sie las.
    Sie ging unauffällig zu einem kleinen Tischchen, legte dort die Zeitschrift ab und küsste ihn hastig, um weitere Fragen zu vermeiden. »Ich habe nur auf dich gewartet«, sagte sie.
    Nie wieder hatte sie eine ähnliche Zeitschrift bei Tiago gefunden – sie wusste nicht, ob er sie einfach nicht mehr kaufte oder besser versteckte. Und falls er sie versteckte, wusste sie nicht, ob er es tat, um sie zu schonen oder vielmehr sich selbst.
    Ihr Blick war immer noch starr auf den Spiegel gerichtet, denn sie wusste nicht, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollte. Sie könnte sticken, sie könnte den Rosenkranz beten, sie könnte im Patio sitzen und Gedichte lesen. Sie könnte nach unten gehen und fragen, ob alles für das Dinner vorbereitet war – heute Abend erwarteten sie Gäste, aber sie wusste: Natürlich war alles vorbereitet – auch ohne ihr Zutun. Und natürlich würde dieser Abend verlaufen wie Hunderte andere zuvor: Von Champagner beschwingt und feinsten Speisen gesättigt, würde man hinterher ein paar lächerliche Spiele spielen, wie sie gerade in Mode waren – Abstrakt-Konkret, Scharade, Rätselraten. Ebenfalls üblich war es, bei Einladungen zum Nachmittagstee anschließend Tennis zu spielen, und Tiago hatte ihr schon oft vorgeschlagen, es ebenfalls zu

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