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Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Titel: Im Schatten des Feuerbaums: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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Verletzten beugte, während man ihn in den ersten Waggon schaffte. Sein prüfender Blick und seine kundigen Bewegungen wiesen ihn als Arzt aus. Offenbar hatte er sich unter den Passagieren befunden und sich bereit erklärt, den Verletzten bis Santiago notdürftig zu versorgen.
    »Siehst du, für ihn ist gesorgt«, sagte Aurelia, »du musst nichts weiter tun, setz dich einfach hin.«
    Willig ließ sich Victoria zu ihren Plätzen ziehen. Erst dort blickte sie sich noch einmal nach ihren beiden Rettern um. Der Saubere, fein eingekleidet, diskutierte draußen noch mit dem Lokführer – der Wilde, Dreckige, der so viel Lust am Prügeln gefunden hatte, war verschwunden. Vielleicht war auch er wieder in den Zug gestiegen, doch da nun sämtliche Passagiere zurück auf ihre Plätze strömten, war nichts von ihm zu sehen.
    Victoria ließ sich auf ihren Sitz sinken. Ihr Herz klopfte bis zum Hals – vor Aufregung, aber auch von etwas anderem, das sie nicht benennen konnte. Erst jetzt bemerkte sie, dass ihr Kleid gleich mehrere Flecken und Risse abbekommen und sich Haarsträhnen aus ihrem strengen Knoten gelöst hatten.

    Einige Stunden später kamen sie in Santiago an. Obwohl sie mittlerweile verstaubt und verschwitzt waren, zitterte Aurelia immer noch, wenn sie an die Prügelei dachte und wie Victoria sich eingemischt hatte. Gewalt machte ihr Angst – vor allem seit der Zeit, als Esteban, ihr leiblicher Vater, der ganz anders als der geliebte Stiefvater Balthasar grausam, rachedurstig und berechnend war, sie entführt hatte, um seinen Anspruch auf die Estancia geltend zu machen. Schon zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit wurde die Erinnerung an seine rohen Griffe lebendig – das erste Mal im Hafen von Valparaíso, nun auf der Zugfahrt. Nicht minder wühlte sie überdies auf, wie Victoria sich verhalten hatte.
    Als der Zug wieder angerollt war, hatte sie ihre Haare zurückgestrichen und sich mit einem Taschentuch den Schmutz vom Gesicht gewischt, beides mit einer so ausdruckslosen Miene, als wäre nichts weiter geschehen … als wäre sie nicht eben fast geschlagen worden und ihre Eltern vor kurzem gestorben.
    »Warum … warum bist du so gefasst?«, stieß Aurelia aus – und stärker als das eigene Zittern wurde kurz das Bedürfnis, sie so lange zu schütteln, bis sie endlich Gefühle zeigte.
    Victoria antwortete wie so oft mit dozierendem Tonfall: »Seit Jahrhunderten gelten Frauen als das schwache Geschlecht, das einzig von seinen Gefühlen geleitet wird. Aber wir haben mindestens so viel Verstand wie die Männer«, sie klopfte sich gegen die Stirn, »wir müssen ihn nur beweisen.«
    Aurelia war verstummt, und auch als der Zug im Bahnhof von Santiago einrollte, fand sie die Sprache nicht wieder – diesmal nicht wegen ihres Befremdens, sondern weil so viele Eindrücke auf sie einprasselten, dass sie kaum mit dem Schauen und Staunen nachkam.
    Der Zentralbahnhof, so erfuhr sie von Victoria, war erst vor wenigen Jahren errichtet worden – und ein architektonisches Glanzstück der Hauptstadt. Er wurde von einer riesigen Eisenkuppel überdacht, die in Anlehnung an den Londoner Victoriabahnhof von englischen Architekten konstruiert worden war. Aurelia legte den Kopf in den Nacken und starrte so lange nach oben, bis ihr schwindlig wurde. Sie wurde blind für die Menschenmassen, vergaß zu zittern, überlegte sich nur, wie ungemein schwierig es gewesen sein musste, all das Eisen hierherzuschaffen und so kunstvoll zusammenzufügen. Hunderte Pläne mussten dafür nötig gewesen sein, und prompt juckte es ihr in den Fingern, die Eisenkuppel sofort zu zeichnen.
    Noch war daran nicht zu denken, denn als sie den Kopf senkte, stand ein Mann neben Victoria und redete auf sie ein.
    »Das ist Pepe«, erklärte Victoria, »Pepe Veliz, du weißt schon, der Sohn von Valentina Veliz.«
    Aurelia wusste es nicht. Zwar hatte Victoria ihr erzählt, dass die Freundin ihrer Mutter Valentina Veliz hieß und sie dieser schon vor zwei Tagen ein Telegramm geschickt hatte, um ihr die Ankunftszeit mitzuteilen, nicht aber, dass sie einen Sohn hatte.
    »Guten Tag, Pepe«, murmelte Aurelia scheu.
    Er nickte ihr zu, verzog seine Lippen kurz zu einem Lächeln, wie es viele Menschen taten, die sie zum ersten Mal sahen und von ihrer Schönheit gebannt waren, wurde aber sofort wieder ernst.
    »Endlich seid ihr da!«, rief er vorwurfsvoll. »Immer diese lästigen Verspätungen.«
    »Aber der Zug kam doch fast pünktlich an!«, rief Aurelia

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