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Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Titel: Im Schatten des Feuerbaums: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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anzutreffen – William trug lediglich einen Morgenmantel, sein Bart stand zerzaust vom Gesicht ab, und seine Wangen wirkten irgendwie zerknautscht. Alicia hatte wiederum zwar ihre übliche dunkle Kleidung angelegt, aber ihre Haare noch nicht hochgesteckt. In wirren Strähnen fielen sie bis über die Hüften.
    Wie lang sie sind, ging es Aurelia durch den Kopf, merkwürdig berührt, dass ihr Geist, der sich wie betäubt anfühlte, ausgerechnet diesen Gedanken hervorbrachte. Dann sah sie, dass Andrés hier war, sah, dass in seinem Gesicht Schmerz, Mitleid und Entsetzen standen, und konnte überhaupt nichts mehr denken.
    »Er ist Tiago in die Wüste nachgereist«, erklärte William tonlos.
    Ein Schrei brach aus Aurelias Kehle. »Nein!«
    Sie wusste plötzlich, was Andrés sagen würde, hoffte jedoch, es irgendwie hinauszögern zu können. Noch war es nicht wahr … noch war es nur Ahnung, nicht Gewissheit.
    Tatsächlich schwieg Andrés. Er sah schrecklich aus, mit blutunterlaufenen Augen, bleichem Gesicht und unrasierten Wangen. Er schien seit Ewigkeiten nicht mehr geschlafen, stattdessen ständig geweint zu haben.
    Erst als William ihm auffordernd zunickte, brachte er hervor:
    »In der Kupfermine … es gab ein Erdbeben … ein schreckliches Unglück … Tiago … er ist … er ist …«
    Obwohl es nur Wortfetzen waren, verstand Aurelia sofort, was er ihnen zu sagen versuchte.
    Plötzlich überkam sie das gleiche Gefühl wie in ihrem Traum. Tiago stand ganz dicht neben ihr, sie konnte ihn fühlen, ihn aber nicht sehen. Nur mit großer Anstrengung gelang es ihr, sich ihm zuzuwenden – um nunmehr miterleben zu müssen, wie ihn der Wind davonwehte. Kurz glaubte sie sich selbst von diesem Wind erfasst. Ganz leicht wurde sie, nichts hielt sie auf der Welt, der Schmerz war einfach zu groß. Gleich … gleich würde sie sich in Luft auflösen, denn wenn Tiago tot war, würde nichts von ihr übrig bleiben, was weiterleben wollte.
    Aber sie löste sich nicht auf. Sie hörte, wie Andrés die bittere Wahrheit endlich aussprach: »Tiago ist tot.« Sie sah William, wie er starr stehen blieb, nur seine zitternde Hand nach der Stuhllehne ausstreckte, um sich daran festzuhalten, sah auch, wie Alicia ihre Hände instinktiv zum Gebet faltete und ihre Lippen einen lautlosen Schrei formten.
    Plötzlich fühlte sie sich nicht mehr leicht, sondern unendlich schwer. Geradezu riesig schien ihr Kopf zu sein, unmöglich konnte ihn der Körper tragen. Sie hörte alle aufschreien, als sie ohnmächtig zu Boden fiel, dann hörte sie nichts mehr.

24. Kapitel
    T rauer hatte sich über das Haus der Familie Brown y Alvarados gesenkt. Die Räume wirkten noch stiller und dunkler als sonst und hatten mehr mit einem Mausoleum gemein als mit einem Ort, wo lebendige Menschen auf eine Zukunft hofften. Da sie Tiagos Leichnam nicht bestatten konnten, hatte Aurelia das Gefühl, sein Grab wäre überall. Es gab kein Fleckchen, wo sie nicht von der Trauer überwältigt wurde. Sie hockte auf seinem Bett und auf ihrem, im Speisezimmer und im Salon, im Patio und auf der Treppe – und weinte. Auch Saqui weinte, jedoch nie in ihrer Gegenwart. Sie verkroch sich in der Küche oder bei Tino und sprach mit niemandem ein Wort.
    Alicia und William dagegen weinten nicht.
    Mit grimmiger Entschlossenheit hatte William alle Hebel in Bewegung gesetzt, damit Tiagos Leichnam gefunden wurde, doch irgendwann musste er, der erfolgsverwöhnte Geschäftsmann, sich geschlagen geben. Er befahl, dass man auf dem Esstisch ein schwarzes Tuch ausbreitete und – wie es in Chile Sitte war – den Sarg darauf stellte, ungeachtet, dass dieser Sarg leer war und bleiben würde. Es war ein Anblick, den Aurelia kaum ertrug.
    Alicia schlich immer wieder zu dem Sarg, betete den Rosenkranz oder strich über das schwarze Tuch, auf dass nur keine Falte entstünde. Ähnlich hingebungsvoll verhängte sie all die Heiligenfiguren ihres Altars mit violettem Stoff – ein Brauch, der bislang auf die Fastenzeit beschränkt blieb und mit dem sie, wie sie Aurelia erklärte, Tiago ehren wollte. Aurelia gruselte sich vor diesem Anblick und begriff nicht, was daran Tiago zur Ehre gereichen sollte, aber sie erhob keinen Einspruch – auch nicht, als Alicia befahl, die Vorhänge sämtlicher Räume zuzuziehen, schwarzen Krepp aufzuhängen und Blumenkränze an den Wänden anzubringen.
    Obwohl Tiagos Leichnam nicht gefunden worden war, erklärte sie überdies, sie wolle in der Nähe der Mine eine

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