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Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Titel: Im Schatten des Feuerbaums: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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manche Frage zu stellen. Vielleicht würde dann irgendwann ein Bild aus seiner Vergangenheit auftauchen.
    Doch diese Vergangenheit versteckte sich im Nebel.
    Am Anfang war der Mann noch zu erschöpft, um lange damit zu hadern, später folgte eine Phase der Verwirrung, die dann und wann in Schwermut überging. Einmal geriet er in heftigen Zorn.
    »Lass mich in Ruhe!«, schrie er, als Victoria wieder einmal vorsichtig fragte, ob er irgendetwas vor sich sehe, was auf sein altes Leben verweise. »Hör endlich auf, mich zu quälen!«
    »Aber ich will dich doch nicht quälen«, erwiderte Victoria hilflos. »Ich will dir etwas Gutes tun!«
    Der Fremde begann auf und ab zu gehen und schien mit jedem Schritt noch wütender zu werden. Die Zwillinge starrten halb ängstlich, halb mitleidig auf ihn.
    »Komm«, sagte Victoria und legte sanft ihre Hand auf seine Schultern. »Lass uns ins Freie gehen, du warst viel zu lange hier gefangen. Vielleicht musst du dich mehr bewegen, damit auch deine Erinnerungen auf Trab kommen. Und schließlich bist du hier in der Atacamawüste aufgetaucht. Jeder, der hier im Norden lebt, hat irgendwie mit dem Salpetergeschäft zu tun. Vielleicht fällt dir etwas ein, wenn wir uns die Mine anschauen.«
    Er folgte ihr willig. Sein Ärger schien so schnell verraucht, wie er ihn überkommen hatte. Stumm, fast kleinlaut ging er mit ihr durch das »Schiff«, während sie alles aufzählte, was sie über Salpeter wusste – in der Hoffnung, dass ein bestimmtes Wort eine Assoziation auslösen könnte.
    »Der Natronsalpeter, der hier abgebaut wird, oder auch der Chilesalpeter, wie man ihn nennt, wird in die ganze Welt exportiert«, erklärte sie. »Er verhilft den Ägyptern zu den besten Weizenernten, die diese jemals einfuhren, er verdoppelt die Weintraubenernte in Italien und die Tabakernte in Virginia. Natürlich kommt er nicht in reiner Form vor, er ist mit Salzen durchsetzt, auch steinigen und erdigen Bestandteilen, und muss erst sorgsam davon getrennt werden. Dieses Gemisch nennt man Caliche, und es lagert in verschiedenen Tiefen bis zu acht Metern.« Sie blickte ihn vorsichtig von der Seite her an. Seine Stirn war gerunzelt, sein Blick konzentriert. »Kommt dir irgendwas von dem, was ich dir sage, bekannt vor?«
    Er schüttelte den Kopf und zuckte jäh zusammen, als plötzlich der Boden unter ihnen erzitterte und in der Ferne Explosionen zu hören waren.
    »Ein Erdbeben?«, fragte er mit Panik in der Stimme.
    »Hast du so etwas schon mal erlebt?«, gab sie hoffnungsvoll zurück.
    »Ich weiß es nicht …«
    »Die Explosionen müssen dir keine Angst machen. Die Pampiños – so nennt man die Salpeterarbeiter – sprengen die Caliche. Anschließend wird sie immer weiter zerkleinert und von den nutzlosen Bestandteilen gereinigt. Siehst du dort die Maultierkarren?« Er folgte ihrem Blick. »Damit wird die gesprengte Rohmasse zur Oficina transportiert, das ist die Fabrik, in der der Rohsalpeter von den steinigen, erdigen Substanzen und Salzen getrennt wird, indem man ihn auslaugt. Komm, lass uns dort hingehen!«
    Sie war sich nicht sicher, ob sie ihn damit nicht überforderte. Trotz der Hitze war seine Haut wieder grau, nicht länger von gesundem Rosa, und auf seiner Stirn stand Schweiß. Doch er folgte ihr mit grimmiger Entschlossenheit, und dieser Anblick rührte sie so sehr, dass sie unwillkürlich die Hand ausstreckte, die seine nahm und fest drückte.
    Dass es ihr unendlich leidtäte, was ihm widerfahren sei, wollte sie sagen, doch weil sie ahnte, dass ihm das nicht half, fuhr sie mit forscher Stimme fort zu erklären: »Dieses Auslaugen der Caliche ist ein sehr arbeitsintensiver Prozess: Erst wird die Caliche pulverisiert und dann dieses Pulver mit Wasser vermischt und erhitzt. Dort hinten siehst du die großen Tanks, wohin diese Flüssigkeit gekippt wird. Ich weiß auch nicht, wie es genau funktioniert, aber auf jeden Fall kann man den Salpeter von der Flüssigkeit trennen, konzentrieren und trocknen. Die Männer, die dort die Leinensäcke schleppen, bringen das pulverisierte Nitrat zu den Zügen und diese wiederum zum Hafen. Wobei es, glaube ich, vor der Verschiffung noch länger auf einem Trockenplatz gelagert wird. Wie auch immer – dieses ganze Verfahren nennt man Parada-System. Ich glaube, so hieß der Chemiker, der es erfunden hat.«
    Der Fremde wiederholte das Wort mehrmals – ein wenig so wie einen Zauberspruch, von dem er sich ein Wunder erwartete. Das Wunder blieb aus. »Das sagt mir

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