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Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Titel: Im Schatten des Feuerbaums: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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stellte.
    Sie weinte stundenlang wie in Santiago – und anders als dort war es nicht befremdend, dass sie die Einzige war, die auf diese Art um Tiago trauerte, sondern selbstverständlich. Doch gerade weil die Trauer und die Entscheidung, wie sie sie auslebte, allein ihr gehörten, wurde es leichter, mit ihr zu leben. Wenn ihr Vorrat an Tränen verbraucht war, starrte sie auf die Regentropfen, die auf das Glasfenster klatschten, und vermeinte, der graue Himmel teilte die Trauer mit ihr und entlastete sie davon.
    Nach einer Woche hörte es erstmals kurz zu regnen auf, und sie verließ das Herrenhaus, um einen Spaziergang zu machen: Sie kam an Weizenfeldern vorbei, die von Trauerweiden gesäumt und deren Ähren vom Regen platt gedrückt waren, an kniehoch stehenden, sattgrünen Wiesen, an weiten Feldern von Sonnenblumen, die zaghaft ihre Köpfe ins noch fahle Sonnenlicht streckten, an kleinen Holzhütten, wo die Pächter lebten, und an Scheunen und Ställen. Sie glaubte sich vage daran zu erinnern, dass es irgendwo auch Rüben-, Mais- und Süßkartoffelfelder geben musste. Doch sie sah nichts davon und kam zum Schluss, dass so etwas vielleicht nicht länger angebaut wurde. Vor nicht langer Zeit hatte William einen seiner Vorträge gehalten, wonach die Haciendas nur dann Gewinn einfahren könnten, wenn sie sich zunehmend auf ein Produkt spezialisierten, Pferde oder Gemüse oder Weizen oder Tabak. Nur auf diese Weise könnten sie mit den niedrigen Preisen der Nachbarländer konkurrieren.
    Es war das erste Mal, dass sie an etwas dachte, was nichts mit Tiagos Tod oder Tino zu tun hatte, was frei von Schmerz und Sehnsucht war, sondern ein schlichter Gedanke, der eigentlich nichts mit ihrem Leben zu tun hatte, jedoch ein Beweis dafür, dass ihre Trauer sie nicht ganz und gar verzehrt hatte, sondern noch etwas von ihr übrig blieb, wenn auch nichts, was Glück verhieß.
    Das Gehen strengte sie bald an. Nach den langen Wochen, die sie mehr oder weniger im Bett verbracht hatte, schienen sämtliche Muskeln erschlafft zu sein. Sie schämte sich der Schwäche und dachte an ihre Kindheit in Patagonien, wo sie – wenn sie nicht gerade zeichnete – kaum still gestanden hatte und, ob zu Fuß oder auf dem Pferd, stets Ausdauer und Kraft bewiesen hatte. Mit den Erinnerungen daran erwachte die Sehnsucht nach ihren Eltern, die sie sich all die Jahre versagt hatte.
    Warum war sie ganz alleine hier, warum nicht bei ihnen? Wie hatte sie sich damit abfinden können, ihnen lediglich knappe Briefe zu schreiben, ihnen aber sonst keinen Platz in ihrem Leben zu gewähren? Gewiss, das alles hatte einen Grund gehabt: Alicia und William sollten vergessen, dass sie von armen Estancieros abstammte, und gar nicht erst wissen, dass ihre Mutter eine halbe Mapuche war – aber Alicia und William waren nicht hier, und so stellte sie sich vor, wie sie neben ihrer Mutter beim Webstuhl sitzen und zusehen würde, wie diese Stoffe anfertigte und färbte, und wie sie ihr das Herz ausschütten konnte. Ihr Stiefvater Balthasar würde dafür sorgen, dass sie genug aß, Ana, die treue Gefährtin ihrer Mutter, würde wie immer auf Russisch fluchen, weil das Leben manchmal so böse war, und Maril, der Tehuelche, ihr erzählen, wie sein Volk trauerte.
    So deutlich konnte sie all diese liebevollen, besorgten Gesichter vor sich sehen, und groß wurde das Verlangen nach ihrer Nähe. Sie fühlte sich nicht stark genug, sich ihm zu stellen, und eilte auf müden Beinen zurück zur Hacienda, während der Himmel noch mehr aufklarte.
    Zum ersten Mal nahm sie sich Zeit, das große Gutshaus zu mustern – eigentlich kein einzelnes Gebäude, sondern ein ganzer Komplex, der um einen quadratischen Hof errichtet worden war. Man erreichte diesen Hof über den zaguán, einen schmalen Durchgang, und wenn man in seiner Mitte stand, konnte man auf der einen Seite das zweigeschossige Wohnhaus betrachten, gegenüber die Kapelle, auf ihrer rechten Seite das Lager und auf ihrer linken das Haus des Verwalters. Gleich dahinter schlossen sich die Ställe an, die man von hier aus zwar nicht sehen, aber riechen konnte. Das Lager, so erkannte sie nun, diente nicht nur dem eigentlichen Zweck der Aufbewahrung – vielmehr wurden hier in kleinen, mit Holzbrettern abgeteilten Werkstätten diverse Produkte erzeugt: Pferdefleisch wurde geräuchert und gesalzen, Obst eingelegt oder zu Marmelade verkocht, Leder gegerbt und zu Schuhen verarbeitet.
    Die Menschen, die hier arbeiteten, beachteten sie

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