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Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Titel: Im Schatten des Feuerbaums: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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Feuer heiß gemacht hat, und dort hinein gibt man Fisch und Fleisch und deckt alles mit den Blättern der Nalcapflanze ab. Über Stunden gart es, und hinterher ist das Fleisch so zart, dass es auf der Zunge schmilzt.«
    Sie leckte sich sehnsuchtsvoll über die Lippen, der Maisauflauf schien ihren Hunger nicht gänzlich gestillt zu haben. »Beim nächsten Mal, wenn meine Mutter Curanto kocht, bringe ich Ihnen einen Teller davon, Doña.«
    Aurelia war nicht mehr ganz so übel wie vorhin.
    »Und Ihr Kleid«, Marisol erhob sich, »ich werde es waschen und mit Holzkohleeisen glätten, dann können Sie es wieder tragen.«
    Aurelia lächelte dankbar, obwohl ihr das Kleid herzlich gleichgültig war.
    »Ich mache es jetzt gleich, dann ist es morgen trocken und sauber.«
    »Wenn du es mir bringst, kannst du etwas von meinem Frühstück haben«, sagte Aurelia und sah, wie in Marisols Augen abermals die blanke Gier aufblitzte.
    Nachdem das Mädchen gegangen war, trank sie selbst ihre Milch in einem Zug aus, und als sie später zu Bett ging, weinte sie sich nicht in den Schlaf wie in den letzten Wochen, sondern es fielen ihr sofort die Augen zu.

    Immer wieder regnete es, trotzdem gab Aurelia ihre Spaziergänge nicht auf – im Gegenteil, sie wurden allmählich länger, und es machte ihr nichts aus, dass bei ihrer Rückkehr Kleider und Haar durchnässt waren. Das Gefühl steter Erschöpfung ließ nach, ihre Haut wurde rosiger, ihre Schritte wurden wendiger – umso mehr, als sie nach ein paar Tagen aufs Korsett verzichtete.
    Die lähmende Trauer überkam sie zwar immer wieder, und dann weinte sie, bis sie keine Tränen mehr hatte. Doch die Pausen dazwischen wurden zunehmend länger – und in diesen Stunden fühlte sie vor allem eins: Langeweile. Sie ersehnte die Stunden, wenn Marisol kam, um ihr zu essen zu bringen, lud sie stets ein, selbst zu nehmen, und bekam, wenn sie ihr zusah, wie sie hungrig das Essen in sich hineinstopfte, selbst wieder etwas Appetit. Doch die Zeit dazwischen erschien ihr leer und öde.
    Erinnerungen an Santiago versuchte sie zu entgehen, aber sie dachte nun oft an ihre Kindheit in Patagonien, wo sie solche Langeweile nie gekannt hatte. Entweder hatte sie auf der Estancia mitgeholfen. Oder sie hatte … gezeichnet.
    Der Gedanke daran gab ihr wie immer in den letzten Jahren einen Stich; sie versuchte, ihn zu verdrängen, und kurz gelang ihr das auch. Aber als sie wenig später am Fenster stand und kaum nach draußen zu sehen vermochte, weil die Scheiben wegen der vielen Feuchtigkeit beschlagen waren, hob sie plötzlich den Finger und zeichnete Konturen – erst die eines Pferdes, dann die des Gutshofs.
    Verwirrt blickte sie wenig später auf das Ergebnis. Es war, als hätte eine Fremde dies gezeichnet – nicht sie.
    »Was tue ich da?«, fragte sie sich laut, um dann zu begreifen, dass, egal, was sie tat, sie niemand dabei sehen würde. Dass niemand es verurteilen konnte oder sagen, sie müsse auf das Zeichnen verzichten. Und da war auch kein Tiago, den es schmerzte, die Kunst aufgegeben zu haben und auf den sie Rücksicht nehmen musste. Zum ersten Mal versetzte ihr der Gedanke an seinen Tod keinen schmerzhaften Schlag, sondern brachte lediglich die Erkenntnis mit sich, dass nunmehr sie ganz allein für ihr Leben die Verantwortung trug und niemand sonst.
    Ich kann hier tun und lassen, was ich will, ging es ihr durch den Kopf – und sie wusste nicht recht, ob dieser Gedanke sie traurig oder glücklich stimmte. Anstatt darüber nachzudenken, hob sie instinktiv erneut die Hand, trat zur nächsten beschlagenen Fensterscheibe und zeichnete auch dort.
    In den ersten Tagen begnügte sie sich mit dem beschlagenen Glas und den Konturen. Als der Himmel sich klärte und die Scheiben rein und klar wurden, verlangte sie von Marisol, ihr Feder und Papier zu bringen, um einen Brief zu schreiben. Während sie es sagte, glaubte sie noch selbst daran, dass sie beides genau für diesen Zweck verwenden würde, doch als die junge Frau mit dem Gewünschten kam, wurde ihr klar, dass sie gelogen hatte. Sie wollte keinen Brief schreiben. Sie hatte kaum die Feder in der Hand und in die Tinte getaucht, als eine fremde Macht von ihr Besitz zu ergreifen schien. Flugs kratzte die Feder über das Papier – und am Ende waren dort keine Worte zu sehen, sondern ein Gesicht.
    Sie hatte nicht geplant, Tiago zu zeichnen – aber es instinktiv getan. Und sobald sie fertig war und seine Züge erkannte, übermannte die Trauer sie.

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