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Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Titel: Im Schatten des Feuerbaums: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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so viel Not zu lindern gibt?«
    Unwillkürlich ballte sie ihre Hände zu Fäusten, während er gelassen weiterrauchte.
    »Was wiederum Jacob anbelangt«, fuhr er fort, »so frage ich mich, ob es vielleicht einen Grund gibt, dass er keine Erinnerungen hat. Vielleicht gibt es etwas, vor dem er davonläuft. Und der Verlust seines Gedächtnisses hilft ihm dabei.«
    »Das klingt, als wäre er selbst schuld!«, fuhr Victoria auf. »Aber er ist so verzweifelt, weil er nicht weiß, wer er ist!«
    Salvador zuckte nur mit den Schultern. »Mag sein«, gab er vermeintlich nach, um dann unwillkürlich zu fragen: »Gibt es etwas, wovor du davonläufst?«
    Victoria rang nach Luft. Die Frage erschien ihr als anmaßend, und sie wusste nichts darauf zu sagen. Sie ließ ihren Kopf gegen die Hauswand sinken und starrte auf den Mond. Wie die untergehende Sonne war er riesengroß. In der Atacamawüste schien man dem Himmel und all seinen Gestirnen näher als anderswo, und auch die Sterne leuchteten klarer als an jedem anderen Ort.
    Salvador drängte nicht auf eine Antwort, rauchte ruhig weiter und überließ sie der Stille. Von der Mine waren vereinzelt Stimmen zu hören, aus der Wüste das Geschrei von Tieren, die erst bei Nacht erwachten, tief und knurrend die einen, hoch und schrill die anderen. Victoria musste an eine Geschichte denken, die ihr eine der Prostituierten erzählt hatte: dass hier einst Grabräuber am Werk gewesen wären, Särge von bestatteten Indios auf der Suche nach Kostbarkeiten aufgebrochen hätten und dass deren Seelen nun seufzend und auf der Suche nach einer ewigen Ruhestatt durch die Salpeterfelder streifen würden.
    Victoria erschauderte, obwohl sie nicht an solche Märchen glaubte. Aber in der Stille lag etwas so Machtvolles – und zugleich ein Zwang, ihr Schweigen aufzugeben.
    Plötzlich war es ganz leicht, Salvador eine Antwort zu geben.
    »Vielleicht«, begann sie, »vielleicht bin ich tatsächlich eine Getriebene. Meine Eltern sind gestorben, als ich noch sehr jung war, und seitdem ist kein Tag vergangen, da ich sie nicht vermisse. Mit einer engen Freundin hatte ich einen schrecklichen Streit, der mir unendlich leidtut – nun, und eine andere Freundin hat mich verraten. Ich möchte es so gerne vergessen, aber ich kann nicht. Und der erste und einzige Mann, den ich liebte, hat meine Gefühle nicht erwidert.«
    Ihre Stimme brach. Trotz aller Rückschläge hatte sie sich bis jetzt für eine starke Frau gehalten, die ihr Schicksal mutig in die Hand nahm, doch jetzt erschien ihr ihr Leben plötzlich erbärmlich – als Aufeinanderfolge von Scheitern, Schicksalsschlägen und Kränkungen.
    Salvador nahm einen tiefen Zug aus seiner Pfeife. »Wir tragen alle unsere Lasten«, erklärte er schlicht, »ich frage mich nur, ob es ausreicht, wenn du dich als Krankenschwester, als Feministin, als Sozialistin erklärst. Und ob nicht noch so viel mehr in dir steckt, was du hinter Pflichten und Aufgaben und politischen Überzeugungen verbirgst.«
    »Ich … ich möchte nicht mehr allein sein«, brach es aus ihr heraus. »Ich möchte jemanden haben, zu dem ich gehöre.«
    »Kann es sein, dass dies der Grund ist, warum dich Jacob dermaßen fasziniert? Weil er nicht nur allein ist wie du, sondern der einsamste Mensch der Welt? Er ist nicht nur von all seinen Liebsten getrennt, sondern er weiß nicht einmal mehr, wer diese sind.«
    Sie wusste nicht recht, warum, aber ihre Kehle wurde plötzlich so eng, dass sie keinen Ton mehr hervorbrachte.
    »Nun«, murmelte er, »ich kenne die Angst vor der Einsamkeit. Nicht dass ich mich ihr nicht gestellt habe, aber es ist mir nicht immer leichtgefallen, zu akzeptieren, dass man mit meinem Beruf besser keine Familie hat.«
    Victoria blickte ihn erstaunt an. »Aber die Zwillingsmädchen …«, setzte sie an.
    Sie hatte nie danach gefragt, aber sie hatte geglaubt, dass Salvador eine Frau gehabt haben musste und sie ihm die Kinder geschenkt hatte.
    Doch er schüttelte den Kopf. »Ich war nie verheiratet, die Zwillinge sind nicht meine Töchter.«
    »Aber …«
    »Ich habe dir doch von Iquique erzählt – dem Aufstand, der gewaltsamen Niederschlagung und wie ich damals jene Kugel abbekommen habe, die immer noch in meinem Bein steckt und mir das Gehen erschwert. Ich kenne die Mädchen von dort. Inmitten eines Berges von Leichen, die von Schüssen förmlich durchsiebt waren, hockten sie, klammerten sich an ihren Händen fest und starrten mich aus großen, dunklen Augen an. Offenbar

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