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Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Titel: Im Schatten des Feuerbaums: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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Sie brach in Tränen aus, sah sein Porträt nicht länger an und zerriss es hastig, so wie es ihr das Herz zerriss.
    Der Kummer verging – der Wunsch, zu zeichnen, blieb. Beim nächsten Mal, als sie zu Feder und Papier griff, war es Tino, den sie mit Tinte auf dem Papier festhielt. Sein Anblick war nicht ganz so schmerzhaft und verursachte keine neuen Tränen, jedoch Scham über die eigene Schwäche, weil sie ihn in Santiago zurückgelassen hatte, anstatt darauf zu pochen, ihn hierher mitzunehmen. Sie warf Feder und Papier in die Ecke, ging unruhig im Zimmer auf und ab und rammte immer heftiger die Fersen in den Boden. Als diese schmerzten, bemerkte sie, dass die Gefühle, die sie antrieben, nicht Trauer, Erschöpfung oder Verzweiflung waren, sondern … Zorn. Zorn auf sich, weil sie hier hockte und ihr Leben verstreichen ließ, ohne Anteil daran zu nehmen. Zorn, weil sie doch einst ein lebendiges, mutiges Kind gewesen war, das stolz behauptet hatte: Ich will zeichnen. Ich will eine große Malerin werden. Gewiss, nach der Entführung durch ihren leiblichen Vater war sie etwas ängstlicher und vorsichtiger geworden … dennoch, etwas von diesem kindlichen Mut musste geblieben sein, sonst hätte sie Victoria damals nicht nach Santiago begleitet, um ihre Ziele zu verwirklichen.
    Ach, Victoria …
    Wie aus dem Nichts verspürte sie plötzlich eine unbändige Sehnsucht nach der einstigen Gefährtin. Obwohl sie sie so lange nicht mehr gesehen und es Wochen gegeben hatte, da sie kein einziges Mal an sie gedacht hatte, fühlte sie jetzt einen Verlust, der fast so schmerzlich war wie Tiagos.
    Ich brauche sie doch … Ich habe sie immer gebraucht … Ich habe es mir nur nicht eingestanden …
    Immer noch ging sie durch das Zimmer, wenn auch leiser und langsamer als zuvor. Wenn Victoria jetzt hier wäre, würde sie ihr beistehen und sie trösten, aber sie würde ihr auch auf diese eindringliche, strenge Weise sagen: »Du bist nicht nur Tiagos Frau. Du warst vorher ein eigenständiger Mensch, du bist es auch nach seinem Tod.«
    Sie bückte sich, um Papier und Feder wieder aufzuheben, setzte sich an den Tisch und zeichnete Victoria – mit diesem klaren Gesicht, der strengen Frisur, dem trotzig gereckten Kinn, den etwas traurigen, aber entschlossenen Augen.
    »Victoria …«, seufzte sie und dachte dann: Ich kann es ja noch … Ich habe es nicht verlernt, Menschen zu porträtieren. Dass sie Tiago und Tino und Victoria zu zeichnen vermocht hatte, war kein Zufall oder Glück gewesen, sondern Zeichen ihres besonderen Talents …
    Am Abend war sie hungrig wie noch nie. Damit Marisol nicht zu kurz kam, ließ sie sich eine zweite Portion bringen – Eintopf aus Kartoffeln und gebratenes Huhn mit knusprigem Brot, auf dem Butter schmolz.
    Nachdem sie gegessen hatte, wischte sie sich die Hände an der Serviette ab und befahl: »Hol noch ein Stück Kuchen … und außerdem Kohlestift und Papier.«
    Aurelia verzichtete auf den Kuchen. Während Marisol ihn mit genussvollem Schmatzen aß, zeichnete sie sie mit dem Kohlestift. Er fühlte sich vertrauter an als die Feder, lag in ihrer Hand, als hätte sie ihn in all den Jahren immer festgehalten und als wäre er mit ihr verwachsen. Wie bei den ersten Malen zeichnete sie nicht langsam und vorsichtig, sondern schnell und mit grimmiger Wut, einem blinden Instinkt folgend, auch ihrem angeborenen Gespür für Formen und Proportionen. So energisch fielen die Striche aus, dass sie manchmal fürchtete, das Papier würde zerreißen. Es blieb unversehrt, aber in ihr tobte wieder dieses befremdende Gefühl … dieser Zorn.
    Ich will nicht mehr weinen, ich will nicht mehr im Bett liegen und nichts tun, ich will nicht mehr einsame Spaziergänge machen!
    Ich will zeichnen!
    Als das Bild fertig war, war sie hochrot im Gesicht, und ihr Herzschlag ging schneller. Sie blickte aus dem Fenster, und obwohl es schon finster war und kaum mehr Farben zu sehen waren, glaubte sie dennoch Dinge wahrzunehmen, für die sie vor kurzem noch blind gewesen war. Nur auf den ersten Blick war alles schwarz. In Wahrheit war der Himmel kobaltblau, die Bäume waren dunkelbraun, und die Wasserpfützen im Hof glänzten silbrig.
    All das waren die Farben der Einsamkeit – aber es waren Farben. Und sie wollte mit ihnen malen. Sie wusste nicht, wie sie hier zu diesen Farben kommen könnte, aber sie entschied, zumindest den Versuch zu wagen, sie aus Erde und Pflanzen herzustellen wie einst in Patagonien.
    Marisol war zu

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