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Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Titel: Im Schatten des Feuerbaums: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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ihr getreten. »Das bin ja ich!«, rief sie begeistert, als sie auf das Bild sah.
    »Ja, das bist du«, murmelte Aurelia und dachte: Und die, die es gemalt hat, bin ich …
    Inmitten dieses Meers aus Trauer hatte sie eine Insel gefunden, auf der sie stehen konnte, ohne zu ertrinken. Auf dieser Insel war sie nicht Aurelia, die Ehefrau, Witwe und Mutter, Aurelia, die liebte und trauerte. Sie war Aurelia, die zeichnete.

    Weitere Tage vergingen, an denen Aurelia zeichnete, mal wütend, mal zögerlich, mal leidenschaftlich, mal gleichgültig, aber in jedem Fall hörte sie nicht zu zeichnen auf. Sie tat es, um zu vergessen, wer sie war, und zugleich, um sich wieder daran zu erinnern.
    Marisol blieb ihr eine treue Gefährtin, die sie längst nicht nur besuchte, um ihr Essen zu bringen, sondern die ihr während vieler Stunden Modell saß. Eines Morgens jedoch ließ sie sich nicht blicken, und am Abend kam ein anderes Mädchen, um das Essen zu servieren.
    »Wo ist Marisol?«, fragte Aurelia, bekam aber keine Antwort.
    Mit einem unterwürfigen Blick schlich das Mädchen aus dem Zimmer.
    Aurelia ließ das Blatt Papier sinken. Unruhe erfasste sie, von der sie nicht genau wusste, woher sie rührte. Weder konnte sie weiterzeichnen noch in ihrem Zimmer bleiben.
    In der letzten Woche hatte sie es kaum verlassen, und noch nie war sie abends in den Hof getreten. Die üblichen Geräusche, die vom täglichen Tagewerk der Dienstboten und Bauern kündeten, waren verstummt – laut und schrill war hingegen etwas anderes zu hören: Geschrei.
    Es kam aus der Richtung der Ställe, und ehe Aurelia die Ursache dafür erkannte, sah sie, wie Marisol ihr von dort entgegenlief. Die rundlichen, ansonsten so gleichmütigen und freundlichen Züge des Mädchens waren aufgewühlt.
    »Doña Aurelia!«, rief sie ein ums andere Mal, um dann, als sie sie erreicht hatte, atemlos hinzuzufügen: »Es ist etwas Schreckliches passiert …«
    »Was?«
    »Einer meiner Brüder ist zurückgekommen …«
    Aurelia erinnerte sich vage daran, dass Marisol von zwei Brüdern erzählt hatte, die die Hacienda in den letzten Jahren verlassen hatten. »Aber das ist doch ein Grund, sich zu freuen«, setzte sie an.
    Marisol schüttelte verzweifelt den Kopf. Anstatt mehr zu erklären, nahm sie Aurelia an die Hand und zog sie mit sich.
    Das Geschrei kam tatsächlich aus dem Stall – und aus den Mündern der vielen Pächter, die einen Kreis gebildet hatten und hilflos zuschauen mussten, was in dessen Mitte geschah. Ein Pfahl stand dort und diente eigentlich dem Zweck, Sättel und Zaumgeschirr daran aufzuhängen. Dies aber war achtlos zu Boden geworfen worden, weil man einen jungen Mann dort festgebunden hatte. Die Männer des Aufsehers hielten die Pächter in Zaum – der Aufseher selbst, Hector Sedano, riss dem Angebundenen soeben das Hemd vom Leib. In der rechten Hand hielt er eine Peitsche und leckte sich begierig über die Lippen – ein Zeichen, dass er sich sichtlich freute, zuzuschlagen.
    »Das … das ist dein Bruder?«
    Marisol nickte nur.
    Hector hob die Peitsche und schwang sie ein paarmal in der Luft. Ehe sie den blanken Rücken traf und die Haut zerriss, drängte sich Aurelia durch die hilflosen und fluchenden Pächter hindurch. »Halt!«, schrie sie – so laut, wie sie seit Ewigkeiten nicht mehr geschrien hatte. Die Kehle schmerzte davon.
    Langsam, ganz langsam drehte sich Hector um. Die Peitsche verfehlte Marisols Bruder, traf mit einem leisen Zischen lediglich den staubigen Boden. Hector hatte sie damals vom Zug abgeholt, aber erst heute musterte Aurelia ihn genauer: Er war ein stattlicher Mann, der zur Dicklichkeit neigte. Die schwarzen, schütteren Haare waren mit Pomade aus dem Gesicht gestrichen. Die Wangen waren rot, die Augen leblos und grausam.
    »Doña Aurelia …«
    Er schien sich nicht ertappt zu fühlen, sondern sprach so nachsichtig wie mit einem kleinen Kind.
    Aurelia wich zurück und senkte instinktiv den Blick. Obwohl die beiden äußerlich nichts miteinander gemein hatten, musste sie bei Hectors Anblick an William denken, der sie stets eingeschüchtert hatte und der, wäre er zugegen gewesen, ihre Einmischung wohl nicht gutheißen würde. Übermächtig wurde der Drang, aus dem Stall zu fliehen, ganz gleich, was hier geschah und warum. Aber dann fühlte sie – nicht minder brennend als Hectors spöttischen – Marisols flehentlichen Blick.
    »Was geht hier vor?«, verlangte sie mit bebender Stimme zu wissen.
    Hector hob die Peitsche

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