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Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Titel: Im Schatten des Feuerbaums: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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mehr bei jedem Atemzug zu zerspringen, und die Last, die auf ihren Schultern ruhte, wurde leichter. Sie stand auf.
    »Ich habe alles gehört …«
    Aurelia nickte. »Ich muss … ich muss irgendwie nach Santiago … Ich kann nicht hierbleiben … ich …«
    Sie brach ab, konnte den Satz nicht zu Ende bringen. Aber Marisol verstand sie auch so.
    »Gewiss«, erklärte sie entschlossen »und ich werde Ihnen dabei helfen.«

    Aurelia blickte in die Schwärze, und sie erschien ihr jetzt, kurz vor Mitternacht, abgrundtief. In Santiago waren viele Straßen auch des Nachts beleuchtet – hier waren nun sämtliche Lampen und Fackeln gelöscht worden. Kein Stern zeigte sich am Himmel, und die schmale Sichel des Mondes versteckte sich hinter Wolken. Nach einer Weile gewöhnten sich ihre Augen jedoch an die Dunkelheit, und sie konnte die Konturen des Hofs ausmachen. Keine Geräusche ertönten von dort – jeder schlief … hoffentlich …
    Lautlos trat Marisol zu ihr. »Sind Sie bereit, Doña Aurelia?«
    Aurelia nickte, darum bemüht, sich ihre Furcht nicht anmerken zu lassen.
    Fünf Tage waren vergangen, seit Marisol ihr angeboten hatte, zu fliehen und gemeinsam mit ihrem Bruder Luis nach Santiago zurückzukehren. Der hatte sich aus Hectors Hand befreien können, konnte sich hier aber nicht wieder blicken lassen, ohne erneut Peitschenhiebe zu riskieren.
    »Aber wie sollen wir von hier fortkommen?«, hatte Aurelia zweifelnd gefragt.
    »Nun, auf zwei Pferden«, hatte Marisol schlicht geantwortet.
    Offenbar sah der Plan vor, dass sie diese Pferde stahlen, und nach anfänglichen Skrupeln befand Aurelia das für einen guten Plan. Das Problem war nur, dass Hector sie nicht mehr aus den Augen ließ. Stets tauchte er wie aus dem Nichts auf, gab sich vermeintlich desinteressiert, prüfte dennoch wachsam, wie sie sich den Tag vertrieb. Selbst wenn er beschäftigt war, fühlte sich Aurelia von der zahlreichen Dienstbotenschar beobachtet, die von ihm offenbar den Befehl erhalten hatte, sie strengstens zu bewachen. Er rechnete wohl damit, dass sie fliehen wollte, und auf ihren Spaziergängen war sie darum nie auch nur einen Augenblick allein. Niemand stellte sich ihr in den Weg oder zwang sie, vorzeitig zurückzukehren – aber sie ahnte, dass dies nur innerhalb der Grenzen der Hacienda galt. Sollte sie diese überschreiten, würde man sie notfalls mit Gewalt zurückholen.
    Es war also undenkbar, tagsüber zu fliehen, und so entschied sie mit Marisol, dass sie zu diesem Zweck die Dunkelheit nutzen würde – und den Fluchtweg aus dem Fenster. Als sie es nun öffnete, dachte sie kurz daran, wie sie auf den Scheiben zum ersten Mal seit langem gemalt hatte, und der Gedanke daran schenkte ihr etwas Mut.
    Sie trug ein schlichtes schwarzes Kleid und hatte ein wenig Proviant in einer kleinen Tasche bei sich, die sie sich am Rücken festgebunden hatte. Sämtliches anderes Gepäck, mit dem sie hierher gereist war, würde sie zurücklassen.
    »Sind Sie bereit?«, fragte Marisol wieder.
    Aurelia nickte, aber ihr Magen fühlte sich ganz flau an, und in ihrer Kehle stieg ein Husten auf. Seit dem Tag, da Hector ihr ihre Lage deutlich gemacht hatte, wurde sie ihn nicht wieder los. Mit aller Macht unterdrückte sie den Drang, zu husten, beugte sich aus dem Fenster – und stockte. In der Dunkelheit sah sie den Boden nicht – nur drohende Tiefe.
    »Worauf warten Sie?«
    Aurelia wusste es nicht genau – dass das Zittern nachließ, ihre Furcht, in den Tod zu stürzen, oder dieses übermächtige Verlangen, einfach zurück ins Bett zu flüchten, dort zu schlafen, zu weinen und aufzugeben. Eigentlich hatte sie es hier doch gut, hatte alles, was sie brauchte … nur Tino nicht … aber selbst der Gedanke an Tino gab ihr nicht die Kraft, endlich aus dem Fenster zu steigen.
    Eine jähe Erinnerung tat das vielmehr – die Erinnerung an Valparaíso, als Victoria sie dazu gedrängt hatte, aus dem Fenster zu klettern, Medikamente aus dem Krankenhaus zu stehlen und zum vereinbarten Treffpunkt zu bringen. Wäre Victoria jetzt hier, so hätte sie kein Verständnis für ihr Zögern. Wie damals würde sie sie auf diese harte, bestimmende Art anblicken und befehlen: »Nun mach schon!«
    Und da machte Aurelia.
    Vorsichtig kletterte sie auf das Fensterbrett und tastete nach der Hauswand. Efeu kroch dort an einer Leiter hoch. Sie knirschte, als sie das Gewicht auf eine der Stufen verlagerte, aber sie brach nicht, wie befürchtet, unter ihren Füßen weg, als

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