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Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Titel: Im Schatten des Feuerbaums: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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einfach tun. Mein Bruder … mein Bruder hat sich aus dem Staub gemacht. Und zwar mit zwei Pferden, die er aus dem Stall gestohlen hat. Ich sollte ihn eigentlich nicht verraten, er ist doch mein Verwandter, aber zugleich denke ich mir: Die Treue zu meinem Patron ist wichtiger. Also sage ich es Ihnen. Richtung Westen ist er geritten, vor nicht einmal einer Stunde.«
    Marisols Stimme ging in ein heftiges Schluchzen über. Noch lauter als dieses war Hectors Fluchen.
    Aurelia blickte sich um. Wohin sollte sie nun gehen? Gewiss würde Hector all seine Männer zusammenrufen, man würde die Jagd auf den Pferdedieb aufnehmen, und gewiss würde man sie hier entdecken, wenn sie nicht …
    Ihr Herz schien auszusetzen, als sich plötzlich eine schwielige Hand auf ihren Mund legte.
    »Keinen Mucks.«
    Vor Schrecken hätte sie ohnehin nicht schreien können. Doch instinktiv begann sie, sich zu winden und wild um sich zu strampeln. Der Griff blieb fest.
    »Ich bin es doch nur!«, erklärte eine fremde Stimme. »Luis … komm mit!«
    Die Hand löste sich von ihrem Mund, und Aurelia atmete tief aus. Während Marisol weiterhin auf Hector einredete und ihn dadurch ablenkte, er schließlich nach seinen Männern und Hunden rief, zog Luis sie in die andere Richtung. Schon nach wenigen Schritten hatte Aurelia die Orientierung verloren. Sie wusste nicht, ob die Mauern, an denen sie entlangliefen, noch zum Haupthaus, den Wirtschaftsgebäuden oder dem Stall gehörten. Sie fühlte nur, dass der Boden immer feuchter wurde. Spitz stachen ihr die Halme eines abgeernteten Feldes in die Fußsohle, dann erreichten sie eine weichere Wiese, die kniehoch stand, so dass ihr Rock nach kürzester Zeit durchnässt war. Geradewegs ging es auf eine dunkle Wand zu – kein weiteres Gebäude, wie sie zunächst dachte, sondern der Wald. Aurelia konnte nichts erkennen und fürchtete, gegen einen der Bäume zu laufen, doch anders als sie fand Luis mühelos den Weg und zog sie einfach mit sich. Nunmehr waren es Moos und Geäst, auf das sie stiegen, feucht und schlammig auch das. Mehrmals blieb sie bis zum Rist stecken, mehrmals musste sie alle Kraft zusammennehmen, um den Fuß aus dem Dreck zu ziehen.
    Blätter klatschten ihr ins Gesicht, und ihre Haare waren bald so nass wie die Kleidung. Die Hustenanfälle kehrten wieder, auch wenn sie sie zu unterdrücken versuchte. Irgendwann, als der Hals so schmerzte, dass sie glaubte, keinen Atemzug mehr machen zu können, erreichten sie eine Lichtung. Mondlicht schien fahl auf zwei schwarze Pferde.
    »Schnell!«, befahl Luis. »Dank Marisol werden sie uns in der anderen Richtung suchen.«
    Aurelia hatte keine Zeit, um sich vor den Pferden zu fürchten. Mit Luis’ Hilfe schwang sie sich im Herrensitz auf den Sattel, und als das Pferd lostrabte, war es ein vertrautes Gefühl, obwohl sie seit Jahren nicht mehr geritten war. Kurz war da keine Furcht vor der Dunkelheit, kurz waren da keine Schmerzen in Kehle und Brust. Wie das junge Mädchen fühlte sie sich vielmehr, das mit Maril durch die patagonische Steppe geritten war. Der heftige Wind hatte ihr stets ins Gesicht geblasen, ihre Kleidung gebläht, sie dem Trug hingegeben, sie würde fliegen.
    Sie musste ihren Kopf tief ducken, damit keine Äste ihr Gesicht trafen, und mit aller Macht die Mähne umklammern, um den Halt nicht zu verlieren – und dennoch fühlte sie sich frei wie damals, ungebunden, überzeugt, dass der bloße Wille, etwas zu schaffen, ausreichte, um es tatsächlich zu kriegen.
    Dieser Wille wurde alsbald geschmälert. Sie verließen eben den Wald, als ein heftiger Regenschauer auf sie niederging. Wie Nadelstiche fühlten sich die Tropfen an, und nach kürzester Zeit schien sich anstelle der Kleidung eine Schicht aus Eis über ihren Körper zu legen. Ihr wurde so kalt, dass sie nicht einmal mehr zitterte, und die Schmerzen im Hals wurden so unerträglich, als hätte sie zerborstenes Glas geschluckt.
    »Ich kann nicht mehr«, jammerte sie, »ich kann einfach nicht mehr.«
    Aber Luis gönnte ihnen keine Pause. »Wenn wir jetzt halten, werden sie uns einholen«, rief er ihr durch den rauschenden Regen und pfeifenden Wind zu. »Wir müssen mindestens bis zum Morgengrauen weiterreiten, ehe wir eine Rast einlegen können.«
    Aurelia hob den Blick zum Himmel. Die Regentropfen, die auf sie klatschten, schienen schwarz wie Pech zu sein. Sie konnte nicht glauben, dass jemals wieder die Sonne aufgehen würde. Und dass sie jemals wieder würde atmen können, ohne

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