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Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Titel: Im Schatten des Feuerbaums: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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du immer noch Fragen stellen.«
    Und sie kam zu Kräften – zumindest ihr Körper. Nach einigen Tagen konnte sie aufstehen, ohne gleich umzukippen, das Essen selbst an ihre Lippen führen, ohne dass ihre Hand dabei zitterte, und sogar eine Stunde lang im Innenhof sitzen und frische Luft schöpfen. Ihre Seele jedoch schien krank zu bleiben. Ein grauer Schleier hatte sich über die Welt gelegt. Nicht Trauer hielt sie gefangen, sondern Gleichgültigkeit. Die Aussicht, ihr Leben lang in diesem Haus zu verbringen und die meiste Zeit davon im Bett zu liegen, war nicht beängstigend, sondern verheißungsvoll.
    Nachdem sie berichtet hatte, was geschehen war, versank sie in Schweigen.
    Valentina nahm es hin und bedrängte sie, nachdem sie mehrere Fragen unbeantwortet gelassen hatte, nicht länger. Pepe dagegen war nicht bereit, aufzugeben. Stundenlang setzte er sich zu ihr – ob ans Bett oder auf die Steinbank im Hof. Sie verweigerte sich zwar jedem Gespräch, aber sie hatte nichts dagegen, dass er ihr aus seinen Büchern vorlas. Es waren vor allem Kurzgeschichten der chilenischen Autoren Baldomero Lillo und Mariano Latorre, und obwohl sie sich deren Inhalt nicht merkte, wirkte seine Stimme beruhigend auf sie.
    Zunächst genügte es ihm, dass sie ihm gerne lauschte – nach einer Woche aber erwachte in ihm Ungeduld.
    »Du musst entscheiden, was du tun wirst!«, rief er, als er wieder einmal an ihrem Bett saß. »Du kannst dir das alles nicht einfach gefallen lassen!«
    Sie zuckte nur die Schultern.
    »Sieh doch … Victoria ging es damals auch schlecht. Als sie ihre Stelle im Krankenhaus verlor und verhaftet wurde und dieser Jiacinto ihr das Herz gebrochen hat. Aber … aber sie hat sich aufgerafft.«
    Aurelia hob den Blick. Valentina und Pepe hatten ihr zwar bald, nachdem sie aufgewacht war, berichtet, dass Victoria nicht mehr hier lebte, aber sie hatte nicht weiter nachgefragt. Erstmals drang ein starkes Gefühl durch ihre Gleichgültigkeit – das von Reue. All ihre trägen Gedanken hatten stets nur um das eigene Leid gekreist und sie vollkommen blind gemacht für das Geschick aller anderen, Pepe vielleicht ausgenommen.
    Mit einem Ruck fuhr sie hoch.
    »Meine Güte!«, stieß sie aus. »Wo … wo genau lebt Victoria jetzt?«
    Pepe seufzte bedauernd, ehe er ihr erzählte, dass sie in den Gran Norte gegangen war, um dort für einen Doktor Cortes zu arbeiten. Mit jedem Wort, das er sagte, sank Aurelia das Herz. Obwohl sie bis jetzt kaum Gedanken an die einstige Gefährtin verschwendet hatte, fühlte sie sich noch verlassener und verzagter.
    Doch plötzlich leuchtete Pepes Blick auf. »Aber weißt du was!«, rief er. »Bevor sie in den Norden aufbrach, hat sie dir einen Brief geschrieben. Sie hat ihn mir gegeben, damit ich ihn für dich aufbewahre. Jetzt wäre doch der richtige Zeitpunkt, ihn zu lesen, nicht wahr? Komm … komm mit!«
    Er wartete ihre Zustimmung nicht ab, sondern lief nach oben in sein Zimmer. Wenig später überreichte er ihr das versiegelte Schreiben. Etwas ratlos hielt Aurelia es in der Hand und machte keine Anstalten, es zu öffnen.
    »Ich denke, ich lass dich allein«, sagte Pepe leise.
    Auch als er das Zimmer verlassen hatte, zögerte sie noch. Sie dachte an den Streit mit Victoria – damals, als sie sie im Haus der Familie Brown y Alvarados besucht hatte – und an die vielen Vorwürfe, die sie ihr gemacht hatte. Jeder davon, dachte Aurelia jetzt, war berechtigt gewesen – aber das hieß nicht, dass sie sich mutig genug fühlte, sich ihnen erneut zu stellen.
    Fast eine Stunde verging, ehe die Neugierde, was Victoria ihr geschrieben hatte, die Furcht vor ihrem schroffen Urteil überwog. Sie brach das Siegel und faltete den Brief auseinander.

Liebe Aurelia,
ich weiß nicht, ob Du diesen Brief jemals lesen wirst, und ich weiß auch nicht, was bis dahin passieren wird. Ich für meinen Teil habe mich entschieden, Santiago zu verlassen, um im Gran Norte ein neues Leben zu beginnen. Ob ich dort glücklich werde, dessen bin ich mir nicht sicher. Ich vermag nicht einmal zu sagen, was genau mich dort erwarten wird – in jedem Fall wird es etwas anderes sein als alles, was ich bisher erlebt habe.
Vielleicht wäre es besser gewesen, Dich vor meiner Abreise zu besuchen, als Dir lediglich zu schreiben, aber ich habe nicht mehr viel Zeit, ehe ich aufbreche, und so begnüge ich mich mit diesen Zeilen.
Ich will Dir unbedingt sagen, wie leid mir alles tut: Die Art, wie wir voneinander geschieden sind,

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