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Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Titel: Im Schatten des Feuerbaums: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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verwundert.
    Pepe verdrehte nur die Augen, und Victoria zwinkerte ihr spöttisch zu. Offenbar war es eine Eigenheit von Pepe, über alles und jeden zu klagen – ganz gleich, ob er damit im Recht war oder nicht. Er war ein etwas untersetzter Mann mit teigig weißer Haut, einer dicken Hornbrille und – obwohl er nicht sonderlich alt wirkte – schütterem Haar, das er mit Pomade eingerieben, sorgfältig über den Kopf gekämmt hatte und das so aussah, als würde es festkleben. Sein Tonfall klang nörgelnd, und seine Stirn war gerunzelt, als hätte er Magenschmerzen oder Zahnschmerzen oder beides.
    »Mutter wird gewiss schon ungeduldig warten, nun kommt!«, stöhnte er.
    An ein schnelles Fortkommen war jedoch nicht zu denken. Passagiere drängten aus den Zügen und füllten die Halle. Lastenträger trugen das Gepäck der Reicheren und bahnten sich derart grob ihren Weg durch die Menge, dass manch einer empört nach ihnen schlug. Aurelia, der die Menschenmassen bei ihrer Ankunft in Valparaíso noch so zugesetzt hatten, bemerkte sie heute aber kaum.
    »Was für eine großartige Konstruktion!«, rief sie immer wieder mit Blick auf die Eisenkuppel.
    »Pah!«, stieß Pepe verächtlich aus. »Großartig ist in dieser schrecklichen Stadt nur die Kriminalität. Denkt euch: Das Diebespack macht nicht einmal vor Nonnen und Polizisten halt, also achtet gut auf eure Taschen. Nirgendwo liegen in den Krankenhäusern so viele Menschen mit Messerstichen wie hier. Und nirgendwo auf der Welt gibt es so viele Morde.« Er erschauderte. »Die Reichen haben eigene Leibwächter, aber unsereins kann sich so etwas natürlich nicht leisten.«
    Seine Kiefer mahlten, seine Stirn verzog sich noch schmerzlicher. »Nun beeilt euch!«
    Endlich hatten sie trotz des Gedränges den Ausgang erreicht. Aurelia hob den Blick, versuchte so viel wie möglich von der Stadt zu erspähen, doch sie sah wieder nur Menschen – und ein ganz eigenartiges Gefährt: Es glich der Eisenbahn, war nur viel schmaler und kürzer und stieß keinen Rauch aus. »Was ist denn das?«, rief sie verwirrt, als Pepe sie zu einem dieser Fahrzeuge führte.
    »Das ist die Trambahn«, erklärte Victoria. »Sie wird – genauso wie mittlerweile die Straßenbeleuchtung – mit Elektrizität betrieben.«
    »Mit so etwas bin ich ja noch nie gefahren!«, rief Aurelia begeistert.
    Pepe verdrehte nur wieder die Augen. »Man sagt, die Erfindung der Elektrizität sei ein ähnlicher Meilenstein der Menschheitsgeschichte wie die Erstürmung der Bastille. Aber ich sage euch: Es hat noch nie so viele Unfälle gegeben wie mit diesen Teufelsdingern. Sie rasen ohne Rücksicht auf Verluste durch die Stadt und fahren unglückliche Fußgänger nieder.«
    Victoria lachte prustend auf – es war das erste Mal, dass Aurelia sie lachen hörte. Sie wurde jedoch sofort wieder ernst, als sie die Trambahn bestiegen. Diese war – wie die britischen Bahnen, nach deren Vorbild sie gebaut wurde – ein Doppeldecker, und sie nahmen im oberen Wagen, der »Imperial« genannt wurde, Platz.
    Aurelia blickte aufgeregt nach rechts und links, sah immer noch vor allem Menschen, breite Straßen, prachtvolle Häuser und in der Ferne die Ahnung der Andenkette. Die Bergspitzen waren an den meisten Stellen jedoch von grauem Dunst bedeckt, so dass man sie auch für Wolken hätte halten können.
    Victoria war ihrem Blick gefolgt – jedoch weniger an Bergen als vielmehr an Santiagos Bevölkerung interessiert. »Die Einwohnerzahl hat sich in den letzten zwanzig Jahren verdoppelt«, erklärte sie mit dem üblichen belehrenden Tonfall, »kein Wunder, dass die sozialen Unruhen wachsen.«
    »Was sich hier auch verdoppelt hat«, fügte Pepe mit solch gekränktem Tonfall hinzu, als wäre es eine persönliche Beleidigung, »ist die Zahl der Landstreicher und Bettler.«
    »Wie hoch die Berge sind!«, rief Aurelia begeistert. »Im Abendlicht werden die Spitzen gewiss rötlich glänzen. Und in der Morgenstunde dunkelviolett.«
    »Ach was«, machte Pepe, »so tief, wie der Dunst hier hängt, sieht man sie so gut wie nie. Die Luft ist so dreckig wie alles andere auch. Die Kanalisation funktioniert nicht richtig, das Trinkwasser besteht meist nur aus Schlamm.«
    Aurelia hörte nicht auf ihn. »Seht doch nur, diese blühenden Gärten!«, rief sie, als sie an einigen besonders prächtigen Häusern vorbeikamen, vor denen in vielen Farben Blumen wuchsen.
    »Und die Straßen sind voller Pferdeäpfel«, murrte Pepe.
    »Wie elegant die

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