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Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Titel: Im Schatten des Feuerbaums: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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geplant, allein mit Tino nach Patagonien zu reisen, doch Pepe ließ es sich nicht nehmen, sie zumindest die erste Wegstrecke zu begleiten. Seine Nähe gab ihr ein wenig Ruhe. Für Fremde sahen sie wohl wie eine ganz normale Familie aus – nicht wie eine Frau, die ihr eigenes Kind entführt hatte, und deren Komplize. Endlich waren die zwei Stunden vorüber, doch der Zug setzte sich nach wie vor nicht in Bewegung.
    »Warum dauert das nur so lange?«, fragte Aurelia ein ums andere Mal.
    Während Pepe sich damit beruhigte, indem er Essen aus Valentinas üppigem Proviantkorb in sich hineinstopfte – hart gekochte Eier, Käse und Brot –, wurde Tino immer unruhiger. Die fremde Umgebung und die zitternde Mutter verwirrten ihn zutiefst. Erst greinte er, dann schrie er wie am Spieß, und die übrigen Fahrgäste starrten ärgerlich auf Aurelia, die verzweifelt, aber vergebens versuchte, das Kind zu besänftigen. Jetzt erkennen sie die Wahrheit!, schoss es ihr durch den Kopf. Jetzt begreifen sie, dass ich von Rechts wegen keinen Anspruch auf das Kind habe und es sich darum so gegen mich sträubt!
    Doch den missmutigen Blicken folgten keine tadelnden Worte, und irgendwann war Tino so erschöpft vom Schreien, dass er einschlief. Kurz, ganz kurz beruhigte sich Aurelia – wurde jedoch gleich wieder nervös, als auf dem Bahnsteig plötzlich eine Truppe Soldaten erschien.
    Sie presste sich an ihren Sitz, fühlte sich beobachtet und ertappt. Gewiss, selbst jemand wie William würde nicht das chilenische Militär einsetzen, um sein Enkelkind zurückzubekommen, sondern sich zunächst an die Polizei wenden, dennoch wurde sie das Gefühl nicht los, dass die Soldaten nur ihretwegen hier aufgetaucht waren.
    Doch anstatt den Zug zu durchsuchen, nahmen sie auf dem Gleis Aufstellung und begannen einen Marsch zu spielen. Aurelia kam die Musik bekannt vor: Es war der Nibelungenmarsch, von jenen hundertdreißig Offizieren im Land verbreitet, die die chilenische Regierung zur Ausbildung nach Deutschland geschickt hatte. Tino wurde von der Musik wach, doch er schrie nicht wieder, sondern blickte neugierig auf die Soldaten und gluckste. Nicht nur ihre Musik war deutsch, auch ihre Uniform und insbesondere ihre Pickelhaube, die der der preußischen Armee glich.
    Der Marsch war noch nicht beendet, als plötzlich ein Pfeifen ertönte und nach langer Geduldsprobe der Zug abfuhr. Während Tino weiterhin nach draußen starrte und mal juchzte, mal zeterte, mal stumm auf etwas deutete, stieß Aurelia innerlich ein Stoßgebet nach dem anderen aus und konnte sich langsam entspannen.
    Der erste Teil der Bahnfahrt führte nach Puerto Montt, wo sie in den Zug nach Punta Arenas umsteigen würden, und für jede dieser beiden Strecken würden sie vier Tage benötigen. Aurelia war blind für die Landschaft, die an ihnen vorbeizog. Sie hielt ihren Blick starr auf Tino gerichtet, gab ihn schließlich aber, als sie zunehmend müder wurde, Pepe. Einige Stunden nachdem sie Santiago verlassen hatten und das Licht trüber wurde, fiel sie in einen unruhigen Schlaf. Als sie aufschreckte, hatte sie kaum mehr Angst, dass William sie verfolgen würde, aber große Sorgen, dass sie Tino nicht das Richtige zu essen geben konnte. Er zögerte, von dem Brot und Käse aus Valentinas Proviantkorb zu nehmen, lehnte die verdünnte Ziegenmilch ab und begann wieder zu weinen.
    Aurelia brach der kalte Schweiß aus, und sie fühlte sich den Tränen nahe. Doch dann trat eine der anderen Reisenden – eine Bäuerin mit breiten Hüften, knorrigen Händen und großen Brüsten, die ein Kind auf den Rücken gebunden hatte – zu ihr und bot an, Tino zu stillen. Aurelia übergab ihn ihr erleichtert, unendlich dankbar, dass Tino vor der Frau keine Angst hatte, sondern selbstvergessen an ihren Brüsten nuckelte und später an Aurelias Brust einschlief.
    »Ich bin noch nie in meinem Leben so weit gereist«, erklärte Pepe am zweiten Tag ihrer Bahnfahrt unvermittelt. »Nur einige wenige Male nach Valparaíso.«
    Seine Worte klangen misstrauisch und sehnsuchtsvoll zugleich.
    »Du könntest es öfter tun«, sagte Aurelia. »Deine Mutter und du – ihr seid doch nicht arm. Warum fährst du nicht nach Europa? Ich war mit Tiago dort, auf unserer Hochzeitsreise …«
    Ihre Stimme brach, als Wehmut und Nostalgie sie übermannten.
    »Ich kann Mutter unmöglich so lange allein lassen!«, rief Pepe empört.
    »Aber in diesem Augenblick lässt du sie doch auch allein.«
    »Ja«, gab er zu, »aber das tue

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