Im Schatten des Feuerbaums: Roman
ich nur für dich … und für Tino.«
»Du bist mein Held«, sagte sie ganz aufrichtig.
Pepe wurde tiefrot im Gesicht. »Mein Vater war ein Held, nicht ich. Er konnte mit seiner Pistole Fliegen treffen.«
»Wem nützen tote Fliegen? Ich hingegen hätte ohne deine Hilfe das alles nicht geschafft. Ich bin so froh, dass ich nicht allein bin.«
Pepe schüttelte vehement den Kopf, aber seine Augen strahlten stolz.
»Vielleicht«, murmelte er, »vielleicht sollte ich neben dem Bild meines Vaters das aufhängen, das du von mir gezeichnet hast.«
Aurelia wurde wieder wehmütig. »Dann würde wenigstens ein Bild von mir in Santiago hängen …«
Einst war sie mit so vielen Träumen nach Santiago aufgebrochen – und jener Mappe mit ihren Zeichnungen und Gemälden im Gepäck. Sie wusste gar nicht, wo sich diese befand – und auch nicht, wo die Bilder, die sie einst von sich und Tiago vor Patagoniens wilder Weite gemalt hatte, geblieben waren. Alles hatte sie zurückgelassen, und die Sehnsucht, Tiago dereinst ihre Heimat zu zeigen, würde sich nie erfüllen.
Sie seufzte und schluckte ihre Tränen hinunter. Sie hatte viel verloren, aber nicht alles. Tino … wenigstens hatte sie Tino.
29. Kapitel
I n den Wochen nachdem Jacob fortgegangen war, stürzte sich Victoria in die Arbeit. In der Mine brach eine Seuche aus und forderte ihre und Salvadors ganze Aufmerksamkeit. Lange war nicht klar, ob es womöglich die gefürchteten Pocken waren, denn das Fieber trat gemeinsam mit einem Hautausschlag auf, doch schließlich gab Salvador Entwarnung: Wenn es gelang, das Fieber rechtzeitig zu senken – mit kühlenden Umschlägen oder der Gabe von Chinin –, konnten gesunde Menschen mühelos wieder genesen.
Als die Zahl der Kranken endlich abnahm, hatte Victoria das Gefühl, sie würde aus einem langen, dunklen Traum erwachen. Die Zeit mit Jacob schien Ewigkeiten zurückzuliegen. Die viele Arbeit und manch durchwachte Nacht hatten ihre Sehnsucht nach ihm vertrieben – nun kehrte sie zurück, und sie fragte sich, ob Jacob mittlerweile wenigstens die seine hatte stillen können und wieder wusste, wer er war. An Jiacinto hingegen dachte sie kaum noch, und wenn, dann schmerzte es nicht mehr. Manchmal, ganz unerwartet, stieg Aurelias Gesicht vor ihr auf, und sie überlegte – ganz frei von einstigem Hader –, wie es der Freundin wohl erging und ob sie sich jemals wiedersehen würden.
Noch etwas anderes erkannte sie mit fortschreitender Zeit: Das Haus von Salvador Cortes war ihr eine Heimat geworden. Stets war alles staubig und sandig, sämtliche Gegenstände des alltäglichen Lebens waren einfach, es galt auf übliche Annehmlichkeiten zu verzichten, aber was sie hier gefunden hatte, kam einer Familie gleich, Menschen also, denen man vertraut und mit denen man ganz selbstverständlich den Alltag teilt.
Nachdem sie es mehrmals vergebens angeboten hatte, durfte sie nun doch häufig mit Teodora kochen. Das hieß: Genau betrachtet, kochte nur Dora, während sie Hilfsdienste verrichtete – denn schließlich, erklärte Dora mit etwas herablassendem Lächeln, könne sie nicht so gut kochen wie sie. Victoria verkniff sich ein Lächeln, nickte ernsthaft – und war dankbar, dass das Mädchen sie nicht mehr zurückwies, sondern mit wachsendem Eifer versuchte, ihr wieder und wieder ihr Können zu beweisen und noch aus den einfachsten Zutaten ein schmackhaftes Mahl zu bereiten. Auch wenn sie sich oft hinter Besserwisserei verschanzte: Victoria wertete das als Zeichen von Doras zunehmendem Vertrauen und akzeptierte, dass die Währung dieses Gefühls keine Berührungen oder Umarmungen waren, sondern Saucen aus Korianderkraut und geschälten Tomatenstücken, Eintöpfe aus Hühnerfleisch, Zwiebeln, Knoblauch und Chilipfeffer oder Caritún, in Zitrone gegarte Schafsleber, überdies ausgiebige Frühstücke, bei denen gekochte Haferflocken, geröstetes Brot und Dörrobst aufgetischt wurden oder ein seltener Gaumenschmaus – in Basilikum gedünstete Maiskolben, die nicht zuletzt darum schmeckten, weil man sie mit der Hand aß.
Verglichen mit Dora war Clara die deutlich zärtlichere und anschmiegsamere.
Eines Abends rieb sie sich fortwährend die Stirn und gab, auf Victorias Nachfrage hin, vor, sich krank zu fühlen. Victoria machte sich Sorgen und schickte sie sofort ins Bett, aber als sie sich zu ihr auf die Pritsche hockte, stellte sie fest, dass die Stirn nicht besonders heiß war, die Augen nicht glasig glänzten und auch die
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