Im Schatten des Feuerbaums: Roman
nicht mit seinem Mund«, sagte sie schließlich.
Sie war sich nicht sicher, ob Aurelia verstand, was sie meinte. In jedem Fall erkannte diese das Wichtigste. »Du hast ihn sehr geliebt«, erwiderte sie.
Victoria seufzte, und kurz fühlte sich die Trauer wie ein dunkler, schwerer Mantel an. Doch dann straffte sie die Schultern, um ihn abzuschütteln. »Ja«, erklärte sie energisch, »ja, ich habe ihn geliebt, und ich werde ihn bis zum Ende meiner Tage in meinem Herzen tragen. Ich werde mich immer an unsere gemeinsame Zeit erinnern und daraus Kraft ziehen. Und dennoch – ob nun an seiner Seite oder jetzt nach seinem Tod –, das Leben, das ich führe, ist meines. So wie dein Leben deines ist. Du musst etwas daraus machen! Es ist großartig, dass du wieder zu malen begonnen hast, aber ich verstehe nicht, warum du es still und leise tust, warum du dich in die Einsamkeit zurückgezogen hast. Denkst du etwa, dass du damit über seinen Tod hinaus Tiagos Willen erfüllst? Hast du ihm nicht genug Opfer gebracht?«
»Du kannst es immer noch nicht verstehen …«
Victoria trat hastig auf sie zu und kniete sich vor sie hin. Sie ergriff ihre Hände und zwang sie, sie anzusehen. »O doch!«, rief sie. »Ich verstehe, wie sehr du Tiago geliebt hast. Aber ich werde nie verstehen, warum du dachtest, du müsstest dich wegen dieser Liebe selbst verleugnen. Daraus kann nichts Gutes entstehen! Gewiss, ich weiß – die Kirche sagt, dass Mann und Frau, die einander die Ehe versprechen, zu einem Leib werden und fortan ein Leben teilen. Aber ich glaube nicht recht daran. Auch wenn man sein Schicksal mit dem eines anderen verknüpft und einen Teil des Weges Seite an Seite geht – am Ende muss man vor allem für sich selbst geradestehen. Selbst die Priester, die aus zwei eins machen wollen, sehen am Ende jeden allein vor Gottes Gericht und in den Himmel kommen oder zur Hölle fahren. Ich glaube nicht an Himmel und Hölle, aber ich glaube, dass man die Last der Verantwortung, die man für sein Leben und seine Talente trägt, nicht abgeben, nicht teilen kann.«
Sie sah, wie in Aurelias Augen Tränen glänzten. »Mag sein«, murmelte sie leise. »Aber das ändert nichts daran, dass ich Tiago so sehr vermisse. Dass es nicht aufhört, weh zu tun. Und dass Tino ohne seinen Vater aufwachsen musste.«
»Aber gerade weil du mit deinen Bildern die Erinnerung an ihn lebendig hältst, sollten sie nicht hier in der Pampa versauern! Warum willst du sie nicht aller Welt zeigen, wenn sie doch das Vermächtnis eurer Liebe sind?«
Aurelia wischte sich die Tränen aus den Augen. »Aber die Welt interessiert sich doch nicht für meine Bilder. Ich freue mich, dass ich etwas gefunden habe, woran ich mein Herz hängen kann – und damit ist es gut. Wenn ich hier sitze und male, dann bin ich beinahe … glücklich. Warum sollte ich vom Leben mehr verlangen?«
»Einst hast du auch mehr verlangt – als du mit mir nach Santiago aufgebrochen bist, um an der Escuela de Bellas Artes zu studieren.«
»Gewiss, und vielleicht war es damals ein Fehler, so schnell zu heiraten, anstatt alle Möglichkeiten zu nutzen, die mir offenstanden. Aber selbst du musst zugeben, dass es zu spät ist, dort weiterzumachen, wo ich damals aufgehört habe. Ich bin zu alt, um zu studieren, ich habe kein Geld, um wieder nach Santiago zu gehen. Allein um Tinos willen könnte ich es gar nicht! Ich musste damals aus dem Haus der Familie Brown y Alvarados förmlich fliehen, musst du wissen.« Sie machte eine kurze Pause. »Wie auch immer. Du magst recht damit haben, dass ein jeder für sich selbst Verantwortung trägt. Aber dann gilt auch, dass jeder die Folgen seiner Entscheidungen in Kauf zu nehmen und das Beste daraus zu machen hat. Der Weg, den ich einst willentlich beschritten habe, hat hierhergeführt. Und hier bin ich nun, und hier male ich nun.«
Sie erhob sich und wollte sich an Victoria vorbeidrängen. Diese blieb vor ihr stehen, hielt sie am Arm fest, wollte etwas entgegenhalten – dass es etwas anderes war, die Konsequenzen von Fehlern hinzunehmen, als sich dafür zu bestrafen, und dass als Tugend gelten mochte, Unabänderliches hinzunehmen, nicht aber zu vorschnell und zu bequem etwas als unabänderlich festzulegen.
Doch ehe sie etwas sagen konnte, ertönte wildes Geschrei.
Als sie hinausliefen, stürzte sich Emilio gerade auf Arturo und riss ihn zu Boden. Der wehrte sich alsbald und verkrallte sich förmlich in den Körper seines Bruders. So wüst fiel ihre
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