Im Schatten des Feuerbaums: Roman
russische Primaballerina Anna Pawlowa zu einem Auftritt an die Magellanstraße zu locken. Wir sind alle dort gewesen. Anna Pawlowa war sehr hübsch.« Er warf einen schnellen Seitenblick auf Dora. »Natürlich nicht so hübsch wie du.«
Dora gab vor, vornehm über diese Bemerkung hinwegzusehen, aber Victoria entging es nicht, dass sich ihre Wangen röteten.
»Ach was«, schaltete sich Emilio mit vollem Mund ein. »Im Ballett zu sitzen war mir viel zu langweilig. Da jage ich lieber an der Küste, Biber- und Fischotterfell, musst du wissen. Die kann man zu einem guten Preis verkaufen.« Sein Blick traf Clara. »Dir würde ich den Pelz natürlich schenken, wenn du magst.«
Er zwinkerte ihr zu, und Clara hatte sich nicht so gut im Griff wie ihre Zwillingsschwester. Ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln, und in den Augen blitzte es auf, aber wie Dora schwieg sie hoheitsvoll.
Victoria seufzte und fragte sich, was ihr mit diesen vielen liebestollen Jugendlichen noch alles bevorstehen würde, als sie plötzlich entdeckte, dass sich eine unbemerkt von der Tafel davongestohlen hatte. Aurelias Platz war leer.
Rita entging ihr fragender Blick nicht. »Um diese Zeit ist sie meist in meiner Weberei, nicht um zu weben, sondern um zu malen«, erklärte sie.
Victoria hatte bislang nicht danach gefragt, war aber nun froh, zu hören, dass Aurelia die Malerei wieder aufgenommen hatte – und zugleich, dass sich nun die Gelegenheit bot, mit ihr allein zu sprechen. Hastig stand sie auf, verließ das Haus und klopfte an der Tür der kleinen Holzhütte.
Aurelia schien sie nicht zu hören. Als sie die Hütte betrat, sah Victoria, dass sie am Boden hockte und in einem Tonkrug verschiedene Zutaten vermischte. Er roch süßlich, harzig und erdig zugleich. Offenbar war Aurelia damit beschäftigt, die Farben herzustellen, mit denen sie malte, und erst nach einer Weile blickte sie hoch und nickte Victoria zu.
Schweigend musterte Victoria die vielen Bilder, die im Raum standen – manche auf einer grobfaserigen, rauh anmutenden Leinwand gemalt, andere auf dünnem, glattem Leder, einige in dunklen Braun- und Rottönen gehalten, andere ungleich bunter mit vielen gelben, blauen und grünen Farbtupfern. Bis auf einige wenige zeigten sie alle dasselbe Motiv: eine Frau und einen Mann, die in die Weite starrten und von denen jeweils nur der Rücken zu sehen war. Obwohl man ihre Züge darum nicht erkennen konnte, zweifelte Victoria keinen Augenblick daran, wer diese beiden Menschen waren.
»Du hast immer wieder dich mit Tiago gemalt«, stellte sie fest.
Aurelia erhob sich und wischte sich die schmutzigen Hände an einem Tuch ab. Sie trat zu Victoria, die im Anblick des größten Bildes versunken war. »Es ist die einzige Möglichkeit, ihm nahe zu sein, verstehst du?«
Victoria nickte. »Wie ist er denn gestorben? War er krank?«
»Nein, es war ein Unfall … während eines Erdbebens. Er war im Norden, dort, wo du jahrelang gelebt hast. Aber … aber …« Sie atmete tief durch. »Ich will nicht daran denken. Ich will mich lieber an unsere gemeinsame Zeit erinnern – und an unseren Traum: dass wir einmal gemeinsam Patagonien besuchen werden.«
»Ich bin keine Expertin«, murmelte Victoria nachdenklich, »aber ich finde, deine Bilder sind viel besser geworden, viel … reifer. Du solltest versuchen, sie zu verkaufen.«
Aurelia lachte auf. »Etwa hier in Patagonien?«
»Wenn man etwas will, findet man immer einen Weg«, gab Victoria etwas ungehalten zurück. »Es wäre doch schade, wenn du dich und deine Bilder hier … versteckst.«
Aurelia setzte sich auf den kleinen Stuhl vor dem Webstuhl ihrer Mutter. »Ich verstecke mich doch nicht … Ich bin einfach wieder in meine Heimat zurückgekehrt. Du bist doch auch hierhergekommen, um … Frieden zu finden.«
Victoria nickte. »Gewiss«, gab sie zu.
»Wie war er denn … dein Mann?«, fragte Aurelia vorsichtig.
Übermächtig war das Bild von Salvador, das vor Victorias innerem Auge aufstieg. So viele Eigenschaften fielen ihr gleichzeitig ein, mit denen man ihn beschreiben konnte: Ruhig war er, trotzdem energisch, fürsorglich, aber nie aufdringlich, entschlossen, aber nie laut, etwas eigenbrötlerisch, aber nie selbstsüchtig. Das Leben an seiner Seite war nicht immer leicht gewesen, doch sie hatte über alles mit ihm reden können. Und – was an manchen Tagen fast noch wichtiger gewesen war – gemeinsam mit ihm schweigen.
»Er war einer, der mit seinen Händen redete –
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