Im Schatten des Feuerbaums: Roman
jedes Pferdegetrampel, aber Ana, die so oft auf Maril warten musste und geschult darin war, auf Zeichen für seine Rückkehr zu harren, hörte schließlich doch ein Pferd.
»Da kommt Maril«, erklärte sie, lange, ehe die anderen ihn sehen konnten.
Victoria schützte ihre Augen mit den Händen und starrte angestrengt in die Weite. Zuerst sah sie nur das übliche Grau, Braun und Dunkelrot, dann vermeinte sie etwas Buntes aufblitzen zu sehen – eines der Seidentücher, die Maril wie viele seines Volkes so gerne trug und von denen es hieß, sie könnten einen ganzen Stamm in den finanziellen Ruin stürzen. Er band sie sich um den Hals und um den Kopf, nur sein Oberkörper, der in der Morgensonne bronzen glänzte, war wie immer nackt.
»Warum reitet er so langsam?«, fragte sie verwirrt.
Der Wind wehte Sand und Staub in ihre Augen. Es dauerte eine Weile, bis sie Einzelheiten ausmachen konnten: Maril ritt auf seinem Pferd und führte zwei weitere Tiere hinter sich, auf deren Rücken allerdings niemand saß. Stattdessen gingen mehrere Gestalten neben dem Pferd her – der Grund, warum sie so langsam unterwegs waren –, und diese trugen eine Bahre.
»Mein Gott, Tino!« Aurelia lief los, und Victoria stürzte hinterher.
Auf der Bahre lag tatsächlich ein Verletzter, und als sie ihn erreichten, konnten sie sehen, wie Blut aus einer großen Beinwunde floss, aber es war nicht Tino, der sich da unter Schmerzen wand – der gehörte vielmehr zu den Trägern der Bahre –, sondern … Christopher Wellington.
Arturo schleppte wie Tino an der Bahre – und Christophers Frau Kate ebenfalls. Sonderlich besorgt schien sie um ihren Mann nicht. Sie verdrehte vielmehr die Augen, als sie Victoria und Aurelia erblickte, und schimpfte vor sich hin.
»Warum wundert es mich überhaupt nicht, dass ausgerechnet dir so etwas passieren muss?«
Während Victoria Christophers verletztes Bein versorgte, redete Kate ununterbrochen. Die Verletzung war nicht sonderlich schwer. Er hatte sich keinen Bruch zugezogen, lediglich eine offene Fleischwunde. Victoria entschied, sie nicht zu nähen, sondern nur mit einer Jodtinktur zu reinigen und zu verbinden. Christopher unterdrückte zwar einen Schmerzensschrei, verzog aber wehleidig das Gesicht – für Kate kein Grund, Gnade walten zu lassen. Einmal mehr zählte sie all jene Unfälle und Missgeschicke auf, die Christopher auf ihren Reisen erlitten hatte, um dann ausufernd zu beklagen, dass diese weitere Verletzung nun wirklich nicht notwendig gewesen wäre. Ihre Worte kamen so wirr, dass Victoria nicht verstand, was nun tatsächlich geschehen war – bis sich schließlich Tino einschaltete, der zunächst nur aufgeregt berichtete, dass Arturo und er zu den spitzen Bergen hatten reiten wollen, den Torres del Paine.
»Seid ihr verrückt geworden?«, schimpfte Aurelia.
»Wir sind nie dort angekommen, denn zuvor sind wir einer Guanakoherde begegnet.«
»Und wer war mittendrin?«, warf Kate ein. »Mein liebster Gatte! Der ließ sich nämlich von den schönen, großen, ernsten Kinderaugen dieser Tiere verführen und dachte doch tatsächlich, sie seien durch und durch gutmütig!«
»Wie auch nicht?«, ächzte Christopher, während Victoria den Verband anlegte. »Sie haben so weiche Schnauzen …«
»Nun, dass sie die Ohren zurückgelegt haben, als du dich angeschlichen hast, hätte dir zu denken geben sollen. Und spätestens als sie begonnen haben, dich zu bespucken, hättest du dich schleunigst auf den Rückzug begeben sollen.«
Christopher zuckte entschuldigend mit den Schultern, Tino dagegen kicherte auf. »Wir haben ja noch versucht, ihn zu warnen«, erzählte er, »aber wir sind leider zu spät gekommen.«
»Ja«, knurrte Kate, »mittlerweile haben sich diese ach so lieben Guanakos nämlich auf die Hinterbeine gestellt und mit den Vorderhufen auf meinen werten Gatten eingetrampelt. Geschieht dir ganz recht.«
»Und dabei sind Sie verletzt worden?«, fragte Victoria.
»Natürlich nicht!«, meinte Kate. »Ein Übel allein reicht ja für meinen Gatten nicht aus! Den Hufen ist er irgendwie ausgewichen, aber als er davonlief, ist er über irgendeine Wurzel gestolpert. Man muss sich schon äußerst dumm anstellen, um in der Grassteppe, wo kaum Bäume wachsen, über eine Wurzel zu stolpern.«
Kate verdrehte abermals die Augen, Tino kicherte wieder, und Christopher stöhnte herzerweichend. Anders als seine Frau hatte Victoria Mitleid mit ihm und befand, dass ihm nach dem ausgestandenen
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