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Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Titel: Im Schatten des Feuerbaums: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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Architekt allein hatte ihm nicht dazu verholfen – im Gegenteil: Gerade weil er so talentiert war, hielt Lawrence ihn in den ersten Jahren klein. Doch dann war der Krieg gekommen.
    Der erste krachende Donner ertönte. Blitze erhellten nur kurz den immer schwärzeren Himmel.
    »Beeilt euch!«, schrie er. »Vielleicht werden wir noch mit dem Dach fertig!«
    Noch während er es rief, wusste er, dass es aussichtslos war. Schon grollte der Donner noch lauter und prasselten die ersten Tropfen auf ihn herab. Aber er war niemand, der schnell aufgab – zumindest nicht, was seine Arbeit anbelangte. Damit, dass seine Erinnerungen nicht wiederkehrten und seine Vergangenheit einem Labyrinth glich, in dem man sich nur verirren konnte, hatte er sich abfinden müssen. Umso verbissener aber versuchte er sich zu beweisen, dass er, wenn er schon nicht wusste, wer er war, doch etwas konnte.
    »Schneller!«, schrie er. »Schneller!«
    Die Arbeiter duckten sich jedes Mal ängstlich, wenn es blitzte, wagten aber nicht, sich ihm zu widersetzen. Seit vier Jahren war er nicht nur Lawrence’ ebenbürtiger Geschäftspartner, sondern galt auch als dessen künftiger Erbe. Damals war Lawrence einziger Sohn im Krieg gefallen, der willensstarke Vater in tiefe Depressionen versunken, und Jacob hatte ehrgeizig die Lücke gefüllt. Mittlerweile hatte Lawrence seine Lethargie überwunden, zumindest phasenweise, aber er war nie wieder der Alte geworden und nicht länger neidisch, sondern erleichtert, wenn Jacob seine Aufgaben übernahm.
    Der nächste Blitz schlug unmittelbar in Hafennähe ein. Jacob fühlte, wie die unfertige Halle unter ihm erzitterte.
    »Wir schaffen es heute nicht mehr!«, schrien ihm die Arbeiter zu.
    Wieder fluchte er, gab aber schließlich nach.
    »Also gut! Wir hören auf!«
    Er drehte sich um, hielt Ausschau nach der Leiter, auf der er vorhin hochgestiegen war, aber der Regen war so stark, dass er nichts mehr sah. Er hatte Angst, einen falschen Schritt zu machen und vom Dach zu stürzen, beugte sich hinunter und kroch auf allen vieren in die Richtung, in der er die Leiter vermutete. Von den Arbeitern war nichts mehr zu hören, nur das Prasseln des Regens und das Grollen des Donners. Er zuckte zusammen, als wieder ein Blitz einschlug und das Beben des Gebäudes ihm durch Mark und Bein ging.
    Zitternder Boden … ein Beben … ich falle …
    Er schüttelte den Kopf, sein nasses Haar klatschte ihm ins Gesicht.
    Ein Erdbeben … damals in der Wüste … es hat ein Erdbeben gegeben …
    Er kroch weiter, anstatt seinen Erinnerungen nachzugehen. Zu oft hatte er erlebt, wie aus dem Nichts ein Bild aus der Vergangenheit vor ihm erstand, aber auch, wie es wie Sand zerfiel, sobald er versuchte, die Einzelheiten zu erkennen.
    Endlich hatte er die Leiter erreicht, hielt sich daran fest, stieg auf die oberste Stufe. Das Holz war glitschig vom Regen, und er klammerte sich umso hartnäckiger fest. Der Regen ließ etwas nach, aus der grauen Wand wurde ein durchsichtiger Schleier, und hinter dem Schleier konnte er sehen, wie die Arbeiter zügig von der Baustelle fortliefen. Keiner hielt die Leiter fest, damit er sicher zu Boden kam.
    »Verdammt!«, stieß er aus, kletterte in die Tiefe, rutschte, fand sein Gleichgewicht wieder. Doch dann bemerkte er, dass nicht nur er rutschte, sondern auch die Leiter, sie zur Seite kippte und er mit ihr, und dass es zu spät war, sein Gewicht dagegenzustemmen. Der Boden schien auf ihn zuzurasen, und dieser Boden war aus hartem Stein. Er würde aus mindestens zehn Metern darauffallen.
    Die Flüche erstarben auf seinen Lippen, er konnte nicht einmal schreien.
    Ich sterbe …, stellte er nüchtern fest und war erstaunt, dass ihn das so kaltließ. Ich sterbe, ohne dass ich weiß, wer ich bin.
    Sämtliche Glieder spannten sich an, und noch hatte er die Hoffnung, er könnte dadurch die Wucht des Aufpralls etwas mindern. Doch als er auf den Boden krachte, war ihm, als würde sein Körper explodieren und in viele Einzelheiten zersplittern. Etwas Grelles erleuchtete die Welt – vielleicht ein neuerlicher Blitz, vielleicht nur der unfassbare Schmerz. In diesem Licht sah er sich selbst, wie er da reglos und mit gebrochenen Knochen auf dem Boden lag. Aber er sah auch etwas anderes. Er sah sein Leben.
    Ich bin nicht Engländer, ich bin Chilene, und die Frau, die ich liebe, heißt Aurelia.
    Das Licht verglühte. Es blieb nichts als Schwärze – und der Hader, dass er die Wahrheit erst dann erkannt hatte, als es

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