Im Schatten des Feuerbaums: Roman
zu spät war.
Drei Wochen waren vergangen, seit Christopher und Kate Wellington die Estancia verlassen hatten, und in dieser Zeit hatte Aurelia ihren Frieden nicht wiedergefunden.
Sie hatte das Ansinnen, mit nach New York zu gehen, sofort abgewiesen, denn allein die Vorstellung, eine lange Reise auf sich zu nehmen, um dann in einer großen, fremden Stadt zu landen, hatte ihr zu sehr zugesetzt. Es musste reichen, dass sie den Wellingtons einige ihrer Bilder überließ, obwohl sie sich nur ungern von ihnen trennte – undenkbar aber war, dass sie sich ihnen anschloss. Seit sie ihnen nachgeblickt hatte, wie sie fortgeritten waren, erfasste sie jedoch eine tiefe Unruhe. Das, was sie eben noch als unzumutbare Strapaze abgetan hatte, wurde in Gedanken zum großen Abenteuer, auf das sie nicht hätte verzichten dürfen. Sie fühlte Reue – und Ärger auf sich selbst.
Um sich beides nicht einzugestehen, half sie auf der Farm und im Geschäft mit, mischte mehr Farben als sonst und malte mehr Bilder. Erschöpft war sie dennoch nicht, lag stattdessen im Dunklen wach auf ihrem Bett und lauschte Tinos Atemzügen – so auch in dieser einen Nacht.
Eine Weile wälzte sie sich hin und her, dann stand sie auf, tastete sich zur Tür und trat in den Innenhof der Estancia. Sie wusste nicht recht, ob es an der ungewohnten Tageszeit lag oder weil sie so in eigenen Gedanken versunken war – aber der vertraute Ort kam ihr auf einmal so fremd vor. Sie glaubte zu sehen, was man bei Dunkelheit eigentlich nicht sehen konnte: die leuchtend roten Dächer, die Blumenwiese neben dem Schafstall, die knorrigen Bäume am Gatter.
Am seltsamsten war, dass kein Wind wehte und in der Luft kein Geruch nach Schafen lag. Vielmehr glaubte sie das Veilchenparfüm von Alicia zu schmecken. Aurelia hatte lange nicht mehr an die Schwiegermutter gedacht, sich kaum gefragt, ob sie noch lebte und wie sie sich ohne Tino die Zeit totschlug.
Tränen traten in ihre Augen, von denen sie nicht wusste, woher sie rührten; kurz war das Bild vor ihr verschleiert, und als sie wieder klar sehen konnte, war die Landschaft noch fremder, hatte nichts mehr mit dem windumtosten Patagonien gemein, sondern glich einer Wüste, wie sie Victoria oft geschildert hatte: einem grauen, trockenen Land, das von der gnadenlosen Sonne versengt wurde.
Der Gedanke an die Freundin beschwor die Worte herauf, die sie zu ihr gesprochen hatte: Man liebt als die, die man ist, und du bist eine Malerin. Auch wenn man heiratet, hat man immer noch das eigene Leben, für das man Rechtfertigung ablegen muss.
Erneut stiegen ihr Tränen auf, doch diesmal verschleierten sie das Bild vor ihren Augen nicht. Ganz deutlich konnte sie die Gestalt sehen, die plötzlich nicht weit vor ihr stand, die Gestalt von … Tiago.
Ja, er war es und war es doch wieder nicht, seine Züge waren vertraut, aber der Rest hatte sich völlig verändert: Grau waren die Schläfen, gefurcht die Wangen, gebeugt der Rücken. Doch am meisten setzte ihr nicht zu, die Spuren von Alter und Vergänglichkeit an ihm wahrzunehmen, sondern dieser unendlich traurige Blick, diese seufzende Stimme, als er ihren Namen sagte.
»Aurelia.«
Sie löste sich aus ihrer Starre, wollte zu ihm laufen, doch kaum hatte sie den ersten Schritt gemacht, begann er zu schwinden: Er wurde nicht weggeweht, denn immer noch ging kein Wind, aber er löste sich auf wie ein Geist. Sie hatte ihn erreicht, wollte nach ihm greifen und festhalten, was noch da war, aber sie griff nur ins Leere und weinte bitterlich.
Plötzlich war da eine andere Hand, warm und weich. Sie legte sich auf ihre Schultern und rüttelte sie.
»Aurelia, was hast du denn?«
Da schlug sie die Augen auf, merkte, dass sie nicht draußen im Hof der Estancia gestanden, sondern die ganze Zeit im Bett gelegen hatte. Sie war in einem so tiefen Schlaf versunken, dass nicht einmal das Morgenlicht sie geweckt hatte, und hatte von Tiago nur geträumt. Tinos Bett war schon leer, aber Victoria saß bei ihr.
»Was hast du denn?«
Sie wollte von ihrem Traum erzählen, konnte ihn jedoch nicht in Worte fassen. Stattdessen brachte sie schluchzend hervor: »Ich bin immer noch so feige! Es gibt so viele Dinge, die ich nicht wage! Als Kind war ich doch so mutig, aber später …«
Victoria strich ihr über die Stirn, die nass von Schweiß und Tränen war. »Du bereust es, dass wir die Wellingtons nicht nach New York begleitet haben«, stellte sie leise fest.
Aurelia rieb sich die schlaftrunkenen
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