Im Schatten des Feuerbaums: Roman
die Silben aussprach, schienen sie wie Feuer auf seinen Lippen zu brennen. In jenem langen, dunklen Tunnel der Sehnsucht und Verlorenheit, in dem er sich all die Jahre über verirrt hatte, nahm er nun einen Lichtstreifen wahr. Er war noch schmal, er hatte ihn noch lange nicht erreicht, aber er war da und strahlte auf ihn.
»Ich heiße Tiago«, beharrte er erneut, »wie noch, das weiß ich nicht … aber Tiago … ich heiße ganz sicher Tiago.«
»Das ist ein spanischer Name, und du bist doch kein Spanier.«
»Die Frau, die ich liebe, ist Spanierin … Sie heißt Aurelia … Sie stammt aus Patagonien.«
Lawrence runzelte die Stirn. »Patagonien liegt aber nicht in Spanien, sondern im äußersten Süden von Chile und Argentinien.«
In Tiagos Kopf rauschte es. Der Lichtschein, er war so schwach, aber er reichte aus, um nicht mehr völlig im Dunkeln zu tappen. »Dann bin ich eben Chilene …«, murmelte er, »und Aurelia auch.«
Lawrence blickte ihn an, als habe er den Verstand verloren. »Aber warum sprichst du dann Englisch?«, fragte er zweifelnd.
Er sank erschöpft auf sein Kissen zurück und schloss die Augen. Sein Durst war gelöscht, aber eine andere Gier brannte in ihm und wollte gestillt werden. Er musste mit irgendjemandem spanisch sprechen, er musste irgendwie nach Chile kommen, er musste die Frau finden, die Aurelia hieß.
»Ich kann nicht bleiben …«
»Du hast eine schwere Gehirnerschütterung, und dein Bein ist gebrochen. Ich fürchte, dir bleibt gar nichts anderes übrig.« Lawrence erhob sich.
Tiago aber schwor sich im Stillen: Solange er dazu gezwungen war, würde er seine Verletzung auskurieren. Aber sobald er wieder einen Schritt gehen konnte, würde er keinen Tag länger in England bleiben. Er würde das nächste Schiff Richtung Südamerika nehmen.
33. Kapitel
A ls sie im Hafen von New York einliefen, redeten Kate und Christopher ununterbrochen. Mit jedem Wort erklärten sie, dass sie die Stadt eigentlich hassten, aber sie konnten das Glitzern in ihren Augen nicht verbergen, als sie nach den langen Reisen wieder heimkehrten.
Aurelia war eingeschüchtert und beeindruckt zugleich, als sie den Hudson River entlangfuhren und die Freiheitsstatue, die auf einer kleinen Insel zwischen Manhattan und Staten Island errichtet worden war, passierten. Clara und Tino starrten stumm darauf – Victoria wusste mehr darüber.
»Die Statue ist ein Geschenk Frankreichs an die USA, meines Wissens gibt es sie erst seit wenigen Jahrzehnten.«
»So ist es«, schaltete sich Christopher ein, »am Sockel ist ein Gedicht von Emma Lazarus angebracht. ›Gebt mir eure Müden, eure Armen, eure bedrängten Massen, die frei zu atmen begehren‹, lautet es.«
»Ha von wegen!«, lachte Kate empört. »Als ob hier irgendjemand frei atmen könnte! In New York, müsst ihr wissen, herrscht stets ein Gedränge, und man muss um jeden Schritt kämpfen. Und in Manhattan sieht man die Sonne vielerorts nur zu Mittag, weil die Häuser so hoch sind.«
Christopher lächelte gutmütig. »In Brooklyn wäre das ganz anders«, erklärte er, »aber jedes Mal, wenn ich Kate vorschlage, dass wir in die beschaulichere Gegend übersiedeln, erklärt sie, dass der einzig wahre Ort, an dem man in New York leben könnte, Manhattan sei.«
In der Tat plusterte sich Kate empört auf. »Du glaubst doch nicht ernsthaft, ich würde in Brooklyn leben?«
»Seht ihr! Sehr ihr!«, rief Christopher zufrieden.
Aurelia indessen war verwirrt. »Ich dachte, die Stadt heißt New York. Wo ist nun Manhattan, und wo ist Brooklyn?«
Christopher deutete erst in die eine, dann in die andere Richtung, während er erklärte, dass New York seit 1898 aus fünf Boroughs bestand, Manhattan, die Bronx, Staten Island, Long Island und Brooklyn. Letzteres lag jenseits des East River, und die Stadthäuser dort waren nicht höher als drei, vier Stockwerke, ganz anders als in Manhattan.
»Man könnte dort um vieles ruhiger wohnen«, fügte er hinzu.
»Papperlapapp!«, ging Kate dazwischen. »Weißt du, wie viele Reedereien, Werften, Fabriken und Eisenbahngesellschaften es dort gibt? Von dort kommt immer Lärm.«
Christopher hörte nicht auf sie. »Und außerdem gibt es in Brooklyn viele Reihenhäuser, die sich auch ärmere Leute leisten können.«
»Du denkst doch nicht etwa, dass ich in deren Nähe leben will?«
Christopher unterdrückte ein Grinsen. »Natürlich nicht!«, rief er im Brustton der Überzeugung – und an Victoria und Aurelia gewandt: »Kate
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