Im Schatten des Feuerbaums: Roman
Augen, ihre Zunge fühlte sich pelzig an. Der Traum von Tiago hatte so viel Sehnsucht nach ihm geweckt – und so viel Wut auf sich.
Kleinlaut nickte sie.
»Nun, es ist doch noch nicht zu spät«, meinte Victoria. »Du kannst dich anders entscheiden. Die Wellingtons wollten von hier aus nach Buenos Aires reisen, sie haben mir sogar den Namen ihres Hotels genannt. Wir könnten nach Punta Arenas reiten, ihnen ein Telegramm schicken, und dann …«
Aurelia zuckte verzagt die Schultern. »Aber wie stellst du dir das alles vor, wie sollen wir nur …«
»Sie haben dir doch für deine Bilder Geld bezahlt. Davon können wir uns eine Schiffspassage leisten.«
»Und die Kinder?«
Victoria lehnte sich zurück und grinste. »Dora buhlt um Arturo, während er immer noch so tut, als wäre er aufs schlimmste gekränkt. Er wird es nicht mehr lange durchhalten. Heute Morgen hat sie ihm das Frühstück gemacht – mit allen Zutaten, die wir haben.«
Besonders üppig konnte das nicht ausfallen, dachte Aurelia, die sich hier schon oft nach den Biskuits und der heißen Schokolade gesehnt hatte, die einst im Haus der Familie Brown y Alvarados morgens serviert worden waren. Hier gab es stattdessen Schiffszwieback mit Salzfleisch, Cornedbeef, Speck und manchmal Dörrgemüse.
»Dora wird mich also nicht vermissen«, fuhr Victoria eifrig fort, »Clara dagegen sollte mitkommen. Salvador hat immer gemeint, dass es gut wäre, wenn sie aus dem Schatten der Schwester treten könnte. Und Tino …«
»Tino ist zu jung für so eine weite Reise!«
»Ich bitte dich, lass dir eine bessere Ausrede einfallen! Rita hat mir erzählt, dass du einst tagelang mit dem Zug quer durch ganz Chile gefahren bist, nachdem du ihn entführt hast. Da war er kaum zwei, und sag mir nicht, ihr habt euch damals einen Schlafwagen leisten können. Er wird doch überleben, erster Klasse nach New York zu reisen!«
»Ach, ich weiß nicht.«
»Und es tut ihm auch gut, wenn er mal nicht unter dem Einfluss deiner drei Brüder steht. Es wird für ihn ein großes Abenteuer sein – für dich übrigens auch. Also, gib dir einen Ruck! Hast du dich nicht eben noch beklagt, dass du feige wärst? Sei es nicht länger, und alles ist gut!«
Victoria sprach immer energischer, während Aurelia sich aus dem Bett erhob. Alles, was Victoria sagte, ergab Sinn, doch den Ausschlag, ihr zuzustimmen, gaben nicht ihre Worte, sondern der Gedanke an Tiago, wie er in ihrem Traum ihren Namen geflüstert hatte. Es hatte so traurig geklungen, so sehnsüchtig … aber auch ein wenig so, als würde er um ihre Hilfe rufen.
Nun, er war tot, sie konnte ihm nicht helfen, aber aufbrechen – wohin auch immer –, das Leben mutig anzupacken und zu schauen, was es an Veränderungen und Stürmen brachte, das konnte sie.
Stimmengemurmel weckte ihn. Er schlug die Augen auf, sah aber nichts als Weiß, wusste kurz auch nicht, wo oben und unten war, rechts und links. Er schien in diesem weißen Nichts zu schweben.
Irgendwann fühlte er zwar, dass er auf einem Feldbett lag, sah aber immer noch nichts anderes als Weiß. War er durch den Sturz erblindet? Aber müsste er dann nicht alles in Schwarz sehen?
Nun, jetzt sah er etwas Schwarzes inmitten von Weiß, sah einzelne Konturen, die immer schärfer wurden. Er wollte sich aufrichten und wurde mit einem glühenden Schmerz bestraft, der durch Kopf und Bein fuhr.
»Ruhig, ruhig!«
Die Stimme klang tonlos und traurig – und er wusste sofort, dass es Lawrence’ Stimme war. Er hockte bei ihm am Bett, wie immer von der Last seines Kummers schwer gebeugt. Trotz seiner Depressionen musste er jedoch sofort zu seinem Krankenbett geeilt sein, nachdem man ihm von dem Unfall berichtet hatte.
Jacob leckte sich über seine Lippen, die sich trocken und rissig anfühlten. »Bitte … Durst …«, stammelte er.
Eine Krankenschwester, die er bislang nicht wahrgenommen hatte, beugte sich über ihn und führte ihm etwas an den Mund. »Aber trinken Sie langsam, Mr. Foster«, ermahnte sie ihn.
Er schmeckte nicht, was er trank, nur dass es kühl und eine Wohltat war. Nach wenigen Schlucken rebellierte sein Magen – und noch etwas anderes. »Das ist nicht mein Name«, stieß er aus.
»Was redest du denn da, Jacob?«
Er schüttelte den Kopf und wurde wieder mit Schmerzen bestraft. Aber das brachte ihn nicht von seiner Gewissheit ab. »Foster – das ist nicht mein Name«, beharrte er. »Und ich heiße auch nicht Jacob. Ich heiße … Tiago …«
Als er
Weitere Kostenlose Bücher