Im Schatten des Feuerbaums: Roman
ist nämlich ein furchtbarer Snob.«
Dieser Verdacht war Aurelia schon seit längerer Zeit gekommen. Auf der Estancia war Kate ausnehmend freundlich gewesen, hatte nicht über die einfachen Lebensbedingungen gemurrt, sondern sich ihnen angepasst und immer wieder ihre Dankbarkeit beteuert, weil Christophers Wunde von Victoria so gut versorgt worden war. Seit sie in Buenos Aires mit ihnen zusammengetroffen waren, war sie zu ihnen zwar immer noch freundlich – zeigte ihr wahres Gesicht jedoch gegenüber dem Schiffspersonal ungeniert: Sie trat herrisch, arrogant und rechthaberisch auf, und obwohl Christopher hinter ihrem Rücken manchmal die Augen verdrehte und er sich die eine oder andere spöttische Bemerkung nicht verkneifen konnte, ließ er sie gewähren.
»Ich bin kein Snob!«, stritt sie nun energisch ab.
»O doch!«, bestand Christopher, der in Victorias und Aurelias Gegenwart stets streitlüsterner war – wahrscheinlich, weil Kate ihn dann nicht ganz so scharf zurechtweisen konnte wie unter vier Augen. »Ihre Mutter und Großmutter haben zu den zentralen Persönlichkeiten des Gilded Age gehört.«
»Das Gilded Age?«, fragte Clara, die sich bis jetzt am wortkargsten erwiesen hatte und sich schwertat, das englische Wort auszusprechen.
»Das war die Zeit nach dem Bürgerkrieg – und zugleich die dekadenteste Zeit, die New York je erlebt hatte. Die gesellschaftliche Elite, zu der maximal vierhundert Familien zählten, scharten sich um die Society-Königin Caroline Astor, in deren Adern noch das Blut der niederländischen Pioniersippen floss, die sich als Erstes in New York niedergelassen haben.«
»Caroline Astor!«, stieß Kate verächtlich aus. »Du willst meine Mutter doch nicht ausgerechnet mit ihr vergleichen? Meine Mutter war bis ans Lebensende rüstig, während Caroline Astor zuletzt ihr Gedächtnis verloren hat. Sie ist völlig wahnsinnig geworden, hat mit imaginären Gästen gesprochen und ist mit ihrem Dienstmädchen Menüpläne durchgegangen für Feste, die niemals stattgefunden haben.« Trotz der verächtlichen Miene klang sie begeistert, und Tino kicherte.
»Nun, solange sie ihren Verstand noch beisammenhatte, waren diese Feste die Höhepunkte der Saison«, fuhr sie fort, »Die teuersten Speisen und der beste Champagner sind serviert und die Verdauungszigarren in Hundertdollarscheinen eingerollt worden.«
Victoria schüttelte missbilligend den Kopf. »Was für eine nutzlose Verschwendung!«
Kate jedoch schien sich an etwas ganz anderem zu stören. »Und man hat schrecklich langweilige Gespräche geführt. Alles musste stets so anständig sein. Schon ein Wort wie Hose war für einen Gentleman tabu. Oder man durfte auch das Wort ›bloody‹ gegenüber einer Dame nicht aussprechen, nicht einmal, wenn es nur um die Beschaffenheit eines Steaks ging.«
Tino kicherte. »Bloody, bloody, bloody!«, wiederholte er ein ums andere Mal und sprang dabei wild herum. Auf der langen Schiffsreise war ihm mehr als einmal langweilig geworden.
»Sei doch endlich still!«, rief Clara streng, die in den letzten Wochen ein wenig die Mutterrolle übernommen hatte.
»Bloody, bloody!«, rief Tino weiterhin feixend und entwischte Clara, die ihm den Mund zuhalten wollte, immer wieder aufs Neue.
»Dieser ganze Reichtum«, zischte Victoria, »er wurde auf Kosten derer gewonnen, die in den Fabriken gnadenlos ausgebeutet wurden.«
Ihre Stimme nahm einen dozierenden Tonfall an, und Aurelia warf ihr einen mahnenden Blick zu. Obwohl sie als Gäste der Wellingtons nach New York kamen, hielt sich Victoria mit ihrer Meinung nie zurück und war schon ein paarmal mit Kate in die Haare geraten, wenn diese abfällig über das arme Pack sprach. Christopher und Aurelia war es bisher immer gelungen, den Streit zu schlichten, aber Aurelia hoffte, dass es nach der Ankunft leichter sein würde, die beiden voneinander entfernt zu halten.
Nun war ohnehin keine Zeit mehr für einen Disput, denn sie legten endgültig an.
Schon aus der Ferne hatten sie die Hochhäuser Manhattans gesehen, und als sie wenig später das Schiff verließen, stand Aurelia erstmals vor einem der Häuser, die den Himmel kitzelten und deren Spitze man selbst dann nicht sehen konnte, wenn man den Kopf zurücklegte. Der eigene Chauffeur holte sie mit dem Auto ab, doch anstatt gleich zu ihrem Haus in der Fifth Avenue zu fahren, schlug Kate eine kleine Rundfahrt vor, die an den berühmtesten Gebäuden der Stadt vorbeiführte, dem Flatiron Building, das die Form
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