Im Schatten des Feuerbaums: Roman
fragte er.
»Denk drüber nach, dann wirst du es verstehen. Oder auch nicht.« Sie riss sich von ihm los, drehte sich um und ging davon.
»Victoria!«, rief er.
Sie drehte sich nicht einmal mehr um. »Lass mich in Ruhe, Jiacinto. Es ist zu spät für uns beide. Am besten, wir vergessen, dass wir uns überhaupt begegnet sind.«
Sie beschleunigte ihren Schritt, und als sie schließlich doch ein letztes Mal über ihre Schultern blickte, sah sie, dass er ihr nicht folgte, sondern – weiterhin mit einem Ausdruck von Verwirrung in seinem Gesicht – stehen geblieben war. Obwohl er sich aufrichtig gefreut hatte, sie zu sehen, und obwohl er sich einsam fühlte – er würde ihr nicht nachlaufen. Das hatte er nie getan. Sie war immer ihm nachgelaufen, sie hatte ihn beeindrucken wollen, aber sie war ihm letztlich nie wichtig genug gewesen, um ein Opfer zu bringen. Vielleicht hatte er sie am Ende tatsächlich respektiert und bewundert. Aber das hieß nicht, dass er ihr sein Herz, seine Seele hätte schenken können. Auch darum hatte er Rebeca geglaubt: nicht nur, weil er sie nie wirklich geliebt hatte. Sondern weil er sie nie wirklich erkannt hatte.
Plötzlich traten ihr Tränen in die Augen. Sie weinte nicht um Jiacinto, sondern weil sie an Salvador denken musste und die Sehnsucht nach ihm übermächtig wurde – dem Mann, der gewusst hatte, wer sie war und was in ihr steckte, der sich zu ihr bekannt hatte, der sich nie und nimmer von irgendeiner Lüge in die Irre führen hätte lassen.
Obwohl tränenblind, lief Victoria zunehmend schneller – lief der Vergangenheit davon und auch diesem schrecklichen Schmerz. Der Abend senkte sich über die Stadt, doch wie immer merzten die vielen grellen Lichter jede Ahnung von Dunkelheit aus. Sie schmerzten Victoria in den Augen – von den anderen Menschen hingegen nahm sie kaum mehr als Schatten wahr. Irgendwie gelang es ihr, ihnen auszuweichen, und zu ihrer Erleichterung stellte sie nach einer Weile fest, dass sie es nicht mehr weit bis zur Fifth Avenue und somit zum Haus der Wellingtons hatte.
Als sie hastig um die letzte Ecke lief und ihr Ziel schon fast vor Augen hatte, kam ihr ein Mann – nicht minder schnell – entgegengerannt. Beide konnten sie nicht rechtzeitig abbremsen, sondern stießen so hart zusammen, dass Victoria der Atem stockte und sie von der Wucht des Aufpralls fast zu Boden gerissen wurde.
»Entschuldigung!«
Victoria wich zurück, senkte den Blick und wartete auf wütendes Geschrei wegen ihrer Unachtsamkeit. Sonderlich viel ausgemacht hätten ihr derlei Beschimpfungen nicht – dazu war ihre Verwirrung nach dem Treffen mit Jiacinto zu groß. Doch das Geschrei blieb aus. Auch der Mann, mit dem sie zusammengestoßen war, schien verwirrt.
Immer noch hielt sie ihren Blick gesenkt, aber sie spürte, wie er zögerte, weiterzugehen, und sie stattdessen anstarrte. Endlich hob sie den Kopf – und stieß pfeifend den Atem aus, als sie erkannte, dass der Mann ihr nicht fremd war.
Schwindel drohte sie zu übermannen. Es war fast zu viel für sie, an einem Tag gleich zwei Männern aus ihrer Vergangenheit zu begegnen, und kurz verdächtigte sie die überreizten Sinne, ihr nach dem Gespräch mit Jiacinto etwas vorzugaukeln, was nicht wirklich existierte. Doch er stand leibhaftig vor ihr … der Mann aus der Wüste. Der Mann, der sein Gedächtnis verloren hatte.
»Mein Gott, Jacob!«
Er hatte sich seit damals etwas verändert, das Alter hatte auch an ihm Spuren hinterlassen: Seine Haare waren grauer, die Züge ausgezehrter, die Schultern etwas schmaler. Dennoch war er noch immer jener verzweifelte, sehnsuchtsvolle Mann von damals, der so inständig nach seiner Identität suchte, der vom glühenden Wunsch getrieben war, sein Leben wieder selbst in die Hände zu nehmen.
Er brachte kein Wort hervor.
»Mein Gott … Jacob«, wiederholte sie.
Endlich löste er sich aus der Starre und sagte etwas – aber es klang in ihren Ohren völlig widersinnig. »Die Wellingtons … sie leben doch hier in der Fifth Avenue … Ich habe ihre Adresse bei einer der Telefongesellschaften erfragt und bin so schnell wie möglich hergekommen. Ihre Namen … ihre Namen standen doch in dem Artikel über das Bild.«
Suchend blickte er sich um und schien erfreut, als er an einer der Wände eine Hausnummer ablas.
»Das Haus der Wellingtons muss gleich in der Nähe sein, oder?«
Was wollte er von Kate und Christopher Wellington? Und von welchem Zeitungsartikel sprach
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