Im Schatten des Feuerbaums: Roman
Gehörte sich denn das?
Nun, Valentina legte keinen großen Wert auf Schicklichkeit – sonst hätte sie sie nicht einfach bei der Escuela abgesetzt und erwartet, dass sie allein nach Hause fände. Ihre Mutter wiederum wäre sehr um ihr Wohl besorgt, doch diese könnte sie damit beruhigen, dass sie in den Straßen ja stets unter Leuten, also nie alleine wäre, und Tiago außerdem als Maler ein angesehener Bürger war.
»Ich wäre sehr froh, wenn du mir Santiago zeigen würdest«, sagte sie hastig, »aber … aber …« Sie kämpfte mit ihrer Verlegenheit und brachte dann endlich hervor: »Aber ich weiß nicht einmal, wie du heißt. Natürlich Tiago, aber ansonsten …«
Laut klatschend schlug er sich seine Hand vor Gesicht. »Mein Gott, ich Tölpel! Ich war so vertieft in deine Bilder, dass ich mich gar nicht richtig vorgestellt habe. Ich heiße …«, er zögerte kaum merklich, als fiele es ihm nicht ganz leicht, den Namen auszusprechen. »Ich heiße Tiago Alvarados«, sagte er schließlich.
Der Name war ihr fremd. Wahrscheinlich kannte man ihn in ganz Santiago, und nur sie wusste als dummes Mädchen vom Lande nichts damit anzufangen. Sie hätte gerne gefragt, was er denn malte und welches seiner Bilder ihn berühmt gemacht hatte, aber dann hätte sie sich als noch dümmer erwiesen. Also schwieg sie.
»Nun, machen wir einen Spaziergang?«, fragte er und sprang auf.
»Jetzt gleich?«
»Du hast doch Zeit, oder nicht?«
Oh, für ihn hatte sie alle Zeit der Welt.
Plötzlich war es ihr egal, ob sie seinen Namen nun kannte oder nicht. Als sie sich wie er erhob, murmelte sie diesen Namen, und er schmeckte genauso süß wie das Lúcume-Eis.
Im Café war es leicht und selbstverständlich gewesen, miteinander zu reden, doch kaum verließen sie es, senkte sich erstmals Schweigen über sie. Aurelia überlegte händeringend, welche Frage sie stellen konnte, um einerseits mehr über ihn herauszufinden und zugleich nicht schrecklich unwissend und naiv dazustehen, aber es fiel ihr keine ein. Doch dann half ihr die Stadt aus der Verlegenheit. In Santiago gab es so viel zu entdecken, so viel zu bestaunen. Am Tag der Ankunft hatten sie der große Bahnhof fasziniert, die Trambahn und die vielen, vielen Menschen, aber erst jetzt entdeckte sie das Herz der Stadt, und Tiago erwies sich als vollendeter Führer. Er zeigte ihr die prächtigen Gebäude an der Hauptstraße, der Alameda, die an der Südseite nicht höher als zehn Meter waren und meistens nach Entwürfen von beliebten italienischen und französischen Architekten errichtet worden waren, überdies die Kathedrale – ein wuchtiger Bau mit zwei riesigen Türmen –, die Stadtverwaltung an der Plaza de Armas und die aufwendigen Eisen- und Glaskonstruktionen, die die Häuser der Reichen hier schmückten.
Aurelia hatte die Weite Patagoniens immer geliebt und vermisste ihre Heimat, aber zugleich waren ihr die Motive dort oft knapp geworden. Sie hatte stets das Gefühl gehabt, sich diese mühsam suchen zu müssen, so wie die Goldsucher auf Feuerland froh über jeden Klumpen waren, den sie ausgruben. Hier jedoch badete sie in diesem Gold, denn hier gab es so viel zu erschauen – und später zu malen.
Sie kamen an der Correo Central vorbei, der Hauptpost, dann dem Palacio de la Real Audiencia, dem ursprünglichen Sitz der Nationalregierung, ehe diese in die Moneda umgezogen war.
Während sie es nicht gewagt hatte, Tiago danach auszufragen, wer er war, wollte sie nun alles über die Stadt wissen, und er erzählte es ihr mit eigentümlichem Glanz in den Augen, als entdecke er die Stadt, in der er offenbar seit langem lebte, an ihrer Seite neu. Sein Lächeln war erst ein wenig nachsichtig, wurde dann aber immer strahlender, je begeisterter sie sich zeigte, und ganz nebenbei erfuhr sie nun doch das eine oder andere über ihn, berichtete er zum Beispiel von der Schule, die er hier in der Nähe einst besucht hatte, oder dass er zwar seit seiner Geburt hier lebte, den Sommer aber oft in Valparaíso verbrachte. Aurelia wusste, dass es die reichen Städter so hielten – und dass er wiederum reich war, bedeutete, dass er mit seinen Bildern schon viel Geld verdient haben musste.
»Sieh nur, der Palacio de la Moneda – er ist so breit und niedrig gebaut worden, damit er bei einem Erdbeben nicht gleich zusammenstürzt. Komm, lass uns wieder zur Alameda zurückgehen! Siehst du die vielen Bäume, die sie säumen? Als Kind bin ich hier manchmal hochgeklettert … obwohl das
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