Im Schatten des Feuerbaums: Roman
Haus«, erklärte sie, »aber den Armen von Santiago geht es viel schlechter. Ganze Familien wohnen zusammengepfercht in den winzig kleinen Zimmern der Mietkasernen, der Conventillos. Manche bekommen nicht einmal Wohnungen zugewiesen, sondern Schweineboxen, und Hunde und Hühner wohnen mit ihnen. Es stinkt so grässlich, dass man sich die Nase zuhalten muss, um nicht ohnmächtig zu werden.«
Was sie sagte, klang schrecklich, aber Aurelias erste Regung war dennoch, zu fragen: Was geht dich das an?
Doch Victoria fuhr schon fort: »Die Einwohnerzahlen in den Städten haben sich in den letzten Jahren nahezu verdoppelt – weshalb man sich über die katastrophale Wohnsituation nicht wundern darf. Wir werden dagegen protestieren.«
»Dass Menschen wie Tiere wohnen?«
»Vor allem auch, dass man in einer Población, wie diese Siedlungen genannt werden, zwar endlich entschieden hat, die elenden Häuser abzureißen und neue zu bauen, man den Bewohnern jedoch weder zugesagt hat, dass sie später zurückkehren können, noch für deren Verbleib bis zur Fertigstellung der Neubauten sorgt. Und für solche Halbheiten lässt sich der Consejo de habitaciones de Obreros auch noch feiern.«
»Aber das erklärt immer noch nicht, warum du eine Pistole in der Hand hältst. Das ist doch sicher … Franciscos Pistole?«
Anders als sein Degen, der unter dem Bild hing, wurde diese in einer Schublade aufbewahrt, aber Pepe hatte sie schon des Öfteren erwähnt – immer dann nämlich, wenn es um Franciscos angebliche Fähigkeit ging, Fliegen erschießen zu können.
Victoria zuckte die Schultern, Rebeca kicherte wieder. Diesmal war es Jiacinto, der Aurelia erst umrundete und ihr dann antwortete: »Wir können das nicht stillschweigend hinnehmen, Mädchen. Die Bewohner, die sich weigern auszuziehen, brauchen unsere Unterstützung. Und außerdem herrscht in einer nahen Zigarettenfabrik Streik. Wenn wir es klug anstellen, können wir die Bauarbeiter, die mit dem Abriss beauftragt sind, dazu bringen, sich diesem Streik anzuschließen.«
Aurelia hatte noch deutlich vor Augen, wie Jiacinto sich hemmungslos mit den Eisenbahnern geprügelt hatte. Sie konnte sich schwer vorstellen, dass er irgendetwas klug anstellte.
»Und warum brauchst du dafür eine Waffe?«, fragte sie empört.
»Es ist doch nur zu unserer Sicherheit!«, rief Victoria. »Noch wichtiger als eine Pistole ist … das hier.« Sie deutete auf Valentinas Druckerpresse, und erst jetzt bemerkte Aurelia einen Stapel Flugblätter, der dort lag. Sie nahm eines und überflog es kurz. Die korrupte Politik Chiles wurde darin angeklagt, die sich nicht für die Menschen einsetzte, sondern den eigenen Interessen folgte und Wahlausschüsse manipulierte.
Langsam blickte Aurelia hoch. Victoria wirkte plötzlich so fremd, wie sie da vor ihr stand. Ihre Haare waren wie immer streng zurückgekämmt, aber in ihrem Gesicht stand ein eigentümliches Leuchten. Aurelia war sich nicht sicher, ob es vom Kitzel der Gefahr rührte, in die sie sich begeben wollte, oder von Jiacintos Anwesenheit. In jedem Fall fürchtete sie, dass es diese bestimmte, energische, vernünftige Frau unnötig leichtsinnig machte.
»Victoria, das ist zu gefährlich! Du willst doch nicht mit Franciscos Waffe auf jemanden schießen?«
Victoria kniff trotzig den Mund zusammen, aber Jiacinto meinte spöttisch: »Nun hab dich nicht so, Mädchen.«
Er trat noch näher an Aurelia heran. Er war nicht sonderlich groß, sein Körper gedrungen, doch sie glaubte, mit jeder Faser seine Unberechenbarkeit zu fühlen, seine zerstörerische Energie, seinen Drang nach Gewalt – alles Eigenschaften, die sie zutiefst abstießen.
»Das ist zu gefährlich!«, beharrte sie.
»Natürlich ist es gefährlich!«, rief er leichtfertig. »Es ist Krieg, und Krieg wird nun mal mit Waffen geführt. Was helfen uns die Gewerkschaften, was die Sozialisten? Sie glauben, den Staat verändern zu können, sobald ihre Partei erstarkt, aber bis dahin sind sie bereit, Menschen für einen viel zu geringen Lohn arbeiten zu lassen und das Regime zu schützen. Sie glauben tatsächlich, mit den Ausbeutern verhandeln zu können, und setzen auf Anwälte wie unseren Bruder Juan, um bessere Arbeitsbedingungen auszuhandeln. Aber es geht nicht ums Verhandeln. Es geht darum, zu stürzen.«
Aurelia verstand nicht alles, was er sagte, aber genug, um dagegenzuhalten: »Ich dachte, es geht nicht um Krieg und um Stürzen, sondern dass Menschen, denen man bessere Häuser
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