Im Schatten des Feuerbaums: Roman
nüchtern, »wir Alten sitzen zusammen und ärgern uns darüber, dass Frauen Steuern Zahlen, aber nicht wählen dürfen, oder dass die Tatsache, dass sie unter Mühen und Schmerzen Kinder gebären, nicht annähernd gleichen Wert hat wie der Militärdienst der Männer. Dann schreiben wir Artikel und schicken sie zwischen Montevideo, Buenos Aires und Santiago herum. Das waren … das sind unsere Möglichkeiten. Die jungen Feministinnen sehen das anders, schließen sich mit Anarchisten, Sozialisten und Gewerkschaften zusammen und …«
»Was sollen wir denn nun tun?«, unterbrach Aurelia die Rede, die erneut auszuufern drohte.
Valentina runzelte die Stirn, als würde sie nachdenken, sagte dann aber doch nur: »Ich persönlich habe Demonstrationen immer gemieden. Erstens sind mir dort zu viele Menschen auf einem Fleck, zweitens sind diese Menschen meistens dreckig.«
Die Falte auf ihrer Stirn vertiefte sich.
Aurelia seufzte. »Du kannst ihr das nicht erlauben. Du … du hast doch die Verantwortung für Victoria übernommen.«
»Ach was! Ich habe ihr lediglich ermöglicht, dass sie Verantwortung für sich selber trägt. Es ist und bleibt ihre Entscheidung, was sie tut. Ich würde alle meine Ideale verraten, wenn ich sie nicht gewähren ließe und nicht darauf vertraute, dass sie sich der Konsequenzen ihres Handelns selbst bewusst ist.«
Sprach’s und wandte sich wieder ihrem Buch zu.
Aurelia zweifelte daran, dass sie meinte, was sie sagte. Gewiss, Valentina hatte ihre Ideale, aber diese Gleichgültigkeit schien ihr weit mehr die Folge von Bequemlichkeit zu sein. Valentina unterstützte sie und Victoria von Herzen – solange es keine Mühen bereitete.
»Ich glaube nicht, dass Victoria weiß, was sie tut«, rief Aurelia deshalb. »Sie steht doch ganz und gar unter Einfluss dieser Carrizos! Und die sind nicht gut für sie!«
»Nun, wenn es so ist, ist sie klug genug, das eines Tages herauszufinden – und zwar sie selbst, nicht du oder ich. Lässt du mich nun wieder allein, ja?«
Wut erwachte in Aurelia – aber auch die Einsicht, dass es sinnlos war, weiter auf sie einzureden. Auch von Pepe war wohl keine Hilfe zu erwarten. Nie und nimmer würde er eine der armen Poblaciónes betreten, wo man sich – wie er so oft klagte – nur Krankheiten holte oder Opfer von Verbrechen wurde. An wen sollte sie sich aber sonst wenden? Sie kannte in Santiago niemanden außer Victoria, die Veliz’ … und Tiago.
Aurelia war sich nicht sicher, ob er ihr helfen konnte, Victoria zur Vernunft zu bringen. Sie konnte sich nur mühsam vorstellen, wie er, dieser feine, elegante, freundliche Mann, auf die kämpferische Victoria einredete – oder gar auf diesen schmutzigen Lumpen Jiacinto.
Aber es würde ihr guttun, mit ihm über ihre Sorgen zu reden und gemeinsam zu entscheiden, was zu tun war.
Zwei Stunden später war Aurelia völlig erschöpft. Sie war erst mit der Trambahn mehrmals durch die Stadt gefahren, schließlich ausgestiegen und suchend durch die Gassen und Straßen gegangen, hatte Café für Café abgeklappert, die sie mit Tiago besucht hatte, und war zweimal an der Escuela vorbeigegangen, obwohl diese sonntags geschlossen war. Nirgendwo traf sie auf Tiago.
Sie war verschwitzt, ihre Frisur hatte sich aufgelöst, und sie wollte schon aufgeben, als sie in einem Kaffeehaus in der Nähe der Alameda zwar nicht auf Tiago, aber auf Andrés Espinoza stieß. Den letzten Monat über hatte sie ihn nur selten gesehen, und sie war sich bis jetzt nicht sicher, was sie von ihm halten sollte. Tiago hatte immer bekräftigt, dass Andrés von Kindesbeinen an sein bester Freund sei, aber sie konnte sich nicht helfen: Sein vermeintlich freundliches Lächeln kam ihr stets ein wenig verschlagen und missgünstig vor, der Blick seiner Augen ein wenig stechend und abschätzend. Doch heute war sie einfach nur erleichtert, ein vertrautes Gesicht zu sehen.
»Andrés, Gott sei Dank, dass ich dich treffe! Ich muss unbedingt Tiago sprechen!«, brach es grußlos aus ihr heraus. »Weißt du, wo er ist?«
Erst jetzt sah sie, dass Andrés – obwohl es erst Mittag war – keinen Kaffee trank, sondern ein Glas Whisky. Sein Blick war irgendwie lauernd, aber zumindest antwortete er bereitwillig: »Ich nehme an, zu Hause. Am Sonntag kann selbst er sich seinen familiären Verpflichtungen nicht entziehen.«
Aurelia runzelte erstaunt die Stirn. »Familiäre Verpflichtungen?«
Andrés erhob sich schnell, verlangte die Rechnung und zog seine
Weitere Kostenlose Bücher