Im Schatten des Feuerbaums: Roman
baut, in der Zwischenzeit ein Dach über dem Kopf haben.«
»Ach, Mädchen, das gehört doch alles zusammen. Die Arbeiterklasse bringt viel zu wenig revolutionäre Energie auf. Leider. Wenn sie sich dann doch einmal beschweren wie jetzt bei der Räumung ihrer Wohnungen, muss man das ausnutzen für die Revolution.«
»Tatsächlich für die Revolution – oder nur dafür, dass du einen Anlass findest, um dich zu prügeln und notfalls um dich zu schießen?«
Jiacinto lächelte weiterhin spöttisch, Rebeca aber stellte sich mit sichtlich zornigem Gesicht vor ihren Bruder.
»Sag ihr, sie soll verschwinden!«, zischte sie in Victorias Richtung. »Sie hat hier nichts verloren!«
Victoria schien kurz zu zögern, sagte dann jedoch im Befehlston: »Geh, Aurelia! Das Ganze geht dich nichts an.«
»Du bestiehlst Valentina, und es soll mich nichts angehen?«
»Willst du mich bei ihr verpetzen?«
»So wie brave Mädchen es tun?«, warf Jiacinto höhnend ein.
Aurelia ging nicht darauf ein. »Victoria, ich verstehe dich nicht! Du willst doch Krankenschwester werden … Higienista. Bisher hast du Menschen geholfen, indem du dem Bäcker Brot abschwatzt und Medikamente aus der Apotheke deiner Eltern verteilst. Nicht, indem du dich an Streiks beteiligst und gewalttätig wirst.«
Victoria schüttelte ihren Kopf. »Man kann das eine nicht vom anderen trennen!«, wiederholte sie Jiacintos Argument. Und Rebeca sekundierte: »Geh malen, braves Mädchen!«
Aurelia war gekränkt. Gewiss, ihre Leidenschaft für die Malerei war kein Geheimnis, aber die Vorstellung, dass Victoria mit Rebeca über sie gesprochen hatte, behagte ihr ganz und gar nicht.
»Die Menschen in den Poblaciónes haben niemanden«, sagte Victoria und bemühte sich um einen versöhnlicheren Tonfall. »Keiner setzt sich für sie ein, schon gar kein Politiker. Die führen zu jedem Thema endlose Debatten, aber am Ende fällt niemand einen Beschluss – schon gar nicht zugunsten der Armen. Ich tue, was ich tun muss.«
Sie nahm die Texte von der Druckerpresse, drückte sie an sich und verstaute die Pistole unter ihrem Kleid. Energisch schritt sie auf Aurelia zu. »Und jetzt lass mich vorbei!«
Aurelia konnte Victoria nicht aufhalten, sondern musste ohnmächtig zusehen, wie sie mit Jiacinto und Rebeca die Buchhandlung verließ. Kurz überlegte sie, ihr nachzulaufen, entschied sich dann aber anders und eilte zu Valentinas Gemach. Sie klopfte mehrmals, bis ein mürrisches »Herein!« ertönte. Aurelia befürchtete, dass Valentina noch schlafen könnte und sie sie aufgeweckt hatte, stellte nun aber fest, dass Valentina bereits am Schreibtisch saß und in ein Buch schrieb. Sie sah fremd aus, da sie ihre Haare noch nicht zum Knoten gebunden trug, sondern ihr diese schütter und grau über die Schultern fielen.
»Aurelia … was hast du denn?«, fragte sie – nicht länger empört über die Störung, sondern neugierig, was diesen sorgenvollen, entsetzten Ausdruck in Aurelias Miene schrieb.
Hastig berichtete sie, was geschehen war – zumindest das meiste davon. Dass Victoria Franciscos Pistole gestohlen hatte, verschwieg sie wohlweislich; sie erzählte jedoch alles von Victorias geplantem Vorhaben und Jiacintos politischen Parolen.
»Ach, diese Anarchisten!«, stöhnte Valentina, nachdem Aurelia geendet hatte, und verdrehte die Augen. »Ich für meinen Teil glaube ja, dass es unserem Kampf mehr dient, wenn wir auf Vernunft anstelle von Leidenschaft setzen. Zumindest habe ich das immer so gehalten. Als ich jung war, habe ich auch geglaubt, vor dem Reden stünde das Tun. Denk dir nur«, sie lachte freudlos auf, »einmal war ich bei einer Aktion dabei, in deren Verlauf sich die Frauen an die Gitter des Kongresses gekettet haben. Die Polizei musste erst stundenlang nach einem Schmied suchen, damit er das Schloss aufbrach, um uns zu verhaften. Und einmal haben wir mitten in der Nacht Plakate der Frauenbewegung an die Hauswände geklebt. Aber auf Dauer hatte ich keine Lust – weder darauf, zu wenig zu schlafen, noch zu lange an irgendwelchen Gittern zu stehen.« Wieder lachte sie, und ihr abschweifender Blick verriet, dass sie Erinnerungen an ihre Jugend nachhing, lange bevor sie Francisco geheiratet hatte.
»Was sollen wir denn nun tun?«, rief Aurelia verzweifelt und verstand nicht, woher die andere die Ruhe fand, in der Vergangenheit zu schwelgen. »Sie bringt sich in höchste Gefahr!«
»Victoria ist eine andere Generation als unsereins«, entgegnete Valentina
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