Im Schatten des Feuerbaums: Roman
war von jenem Gebäude zu erahnen, das genauso von einem der vielen Erdbeben zerstört worden war wie die Kapelle auf der Spitze des Berges. Aurelia genoss den Ausblick auf die Andenkette, schloss kurz die Augen und redete sich ein, sie wäre in Patagonien und es gäbe nur sie und die Natur und nicht obendrein Tausende von Menschen. Wobei – Tiago gab es natürlich auch, unmöglich wollte sie auf seine Gesellschaft verzichten, und eigentlich war es ihr egal, ob sie sich durch Massen wühlte oder die Natur betrachtete, solange er nur bei ihr war.
Anfangs zeigte er ihr Santiago, damit sie ihre neue Heimat kennenlernte – später begaben sie sich gemeinsam auf Motivsuche, ob nun der Mercado Central, wo Marktleute laut brüllend Fisch und Obst verkauften, die Galería San Carlos mit ihren vielen teuren Geschäften für die feinen Damen oder das beschauliche Tal des Río Maipo mit seinen grünen Wiesen, saftigen Bäumen und freiem Ausblick auf die Kordilleren. Ein wenig hatte sich Aurelia gescheut, eine so weite Strecke ganz allein mit Tiago in einer gemieteten Droschke zurückzulegen. Doch nie und nimmer hätte sie das Unbehagen zugegeben, und kaum streiften sie gemeinsam durch die Natur, erschienen ihr alle Ängste als lächerlich. Nie wurde er aufdringlich oder trat ihr zu nahe – nur dann und wann nahm er ihre Hand, drückte sie scheu und ließ sie – nach ihrem Empfinden sogar viel zu schnell – wieder los.
Obwohl sie so viele neue Orte sah und auch malte, griff sie doch immer wieder auf bekannte Motive zurück. Ihr liebstes war jenes, das sie selbst inmitten der Weite Patagoniens zeigte – mit dem Unterschied, dass sie anders als früher auch Tiago an ihrer Seite malte: Hand in Hand standen sie inmitten unberührter Natur, genossen deren Weite und die Nähe zueinander. Sie malte einen ganzen Zyklus, in dem sie dieses Motiv zu allen Tages- und Nachtzeiten festhielt, aber sie wagte es nicht, die Bilder Tiago zu zeigen, aus Angst, er könnte es anmaßend finden, dass sie sie beide nach Patagonien entführte, obwohl er sich als Stadtführer doch solche Mühe gab. Auch vor Victoria versteckte sie die Bilder, damit diese nicht lästern konnte, sie verschwende mehr Gedanken an den jungen Mann als an ihr Talent und ihre große Zukunft als Malerin.
Anfangs gab Victoria beim gemeinsamen Abendessen im Hause Veliz oft noch einen spöttischen Kommentar ab, wenn Aurelia von ihrem Tag erzählte – nach und nach verkniff sie sich solche Bemerkungen und erzählte lieber aufgeregt, was sie selbst erlebt hatte.
»Die Hygiene im Krankenhaus ist beklagenswert!«, rief sie eines Abends. »Ein jeder weiß, dass der weiße Ausfluss von Frauen, die an Geschlechtskrankheiten leiden, bei der Geburt nicht mit dem Neugeborenen in Berührung kommen darf. Er führt zu Augenkatarrhen und im schlimmsten Fall zum Erblinden! Aber anstatt die Frauen aufzuklären und besondere Vorsicht walten zu lassen …«
Sie brach ab, als sie sah, wie Pepe seine Serviette auf den Tisch schleuderte – ein Zeichen höchster Empörung. »Weißer Ausfluss! Geburten!«, stieß er aus. »Da vergeht einem ja der Appetit.«
Valentina achtete wie immer nicht auf ihn. »Kann denn der Säugling, der an einer solchen Krankheit leidet, behandelt werden?«, fragte sie interessiert.
»Das schon, und eigentlich ist es ganz einfach. Man muss nur die Augen reinigen und ein Mittel namens Argentum nitricum einträufeln. Aber die Frauen werden oft mitsamt den Kindern entlassen, ohne dass man vorher die Augen untersucht, und wenn diese dann zugeeitert sind, ist es oft schon zu spät. Den arroganten Ärzten wie Doktor Espinoza ist das natürlich völlig gleich!« Victorias Augen funkelten. »Mir ständig unsinnige Aufgaben zuweisen, das kann er, das kann auch Schwester Adela – zum Beispiel mich mit schmutzigen Laken in die Wäscherei schicken oder mir zu befehlen, Erbrochenes aufzuwischen!«
Pepe ächzte förmlich, doch Valentinas Gesichtsausdruck blieb ungerührt.
»Aber etwas gegen diese Missstände tun«, fuhr Victoria erbost fort, »das können sie natürlich nicht!«
»Das kannst du auch nicht«, gab Valentina zu bedenken. »Ich würde dir außerdem raten, dich lieber nicht mit den Doktoren anzulegen – auch wenn du in der Sache recht hast.«
»Es wird doch noch erlaubt sein, Fragen zu stellen – mehr tue ich nicht. Aber Doktor Espinoza ist sich viel zu fein, sie zu beantworten. Der prüft mich lieber unentwegt, um mir endlich einen Fehler
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