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Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Titel: Im Schatten des Feuerbaums: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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mehr auch als vor den Polizisten.
    Sie war sich sicher, dass Rebeca – anders als sie – die Pistole benutzen und in die Menge schießen würde, ganz gleich, ob sie womöglich auch einen Unschuldigen traf, doch dann hatte Jiacinto seine Schwester schon am Arm gepackt und zog sie mit sich. Binnen weniger Augenblicke verschwanden sie in der Menge, und keiner der beiden drehte sich noch einmal um, um zu sehen, ob sich auch Victoria in Sicherheit bringen würde. Diese löste sich endlich aus der Starre und wollte hinterherlaufen, aber während sie verzweifelt nach einem Fluchtweg Ausschau hielt, fiel ihr Blick plötzlich auf … Aurelia.
    »Gütiger Himmel!«, stieß sie aus und glaubte sich in einem verrückten Traum gefangen, in dem Menschen und Situationen aufeinandertreffen, die im normalen Leben nichts miteinander zu tun haben.
    Erst einige fassungslose Augenblicke später begriff sie, dass kein aberwitziger Zufall Aurelia hierhergetrieben hatte, sondern die Sorge um sie, Victoria. Ihr Name war es denn auch, den Aurelia wieder und wieder verzweifelt schrie.
    »Hier!«, erwiderte Victoria. »Ich bin doch hier!«
    Ein warmes, dankbares Gefühl überkam sie. Aurelia würde sie nicht anschreien und beschimpfen wie Rebeca. Aurelia würde sich nicht einfach aus dem Staub machen. Doch alsbald wich die Freude blankem Entsetzen. Sie kam nicht durch das Gedränge, sondern musste hilflos zusehen, wie nun von allen Seiten die Polizisten kamen, wie Aurelia von ihnen eingekreist wurde, wie ein Pferd sich aufbäumte und seine Hufe gefährlich nahe an ihrem Kopf in die Luft traten.
    »Aurelia!«, brüllte sie. Erneut warf sie sich mit aller Macht ins Gedränge, boxte, schlug, biss um sich; nichts mehr war da von der Starre, die sie vorhin befallen hatte, als sie die Pistole in der Hand hielt, nur der inständige Wunsch, zu ihrer Freundin zu gelangen. Nur noch wenige Schritte lagen zwischen ihnen, als sie plötzlich ein Topf an der Schläfe traf – einer jener, auf denen die Frauen vorhin als Zeichen des Protestes geschlagen hatten.
    Kurz wurde es schwarz vor ihren Augen. Sie sank zu Boden, keuchte, quälte sich, wieder auf die Beine zu gelangen. Das Bild klärte sich … aber Aurelia … Aurelia war verschwunden … sie war nirgendwo zu sehen.
    Ein Ellbogen rammte sich in ihre Seite, abermals zersprang das Bild vor ihren Augen in viele kleine Funken. Klar und deutlich hörte sie dennoch eine Stimme an ihrem Ohr. Sie kam von einem der beiden Männer, die sich plötzlich durch die Menge drängten. Sie waren vornehmer gekleidet als die Demonstranten und gehörten auch nicht zu den berittenen Polizisten.
    »Wie konntest du sie nur allein lassen, Andrés? Noch dazu an diesem Ort? Du hättest ihr sofort folgen müssen.«
    »Aber was hätte ich denn tun sollen, Tiago? Ich konnte sie doch nicht einfach gewaltsam festhalten, sie war fest entschlossen …«
    Tiago … war das etwa der Tiago?, fragte sich Victoria verwirrt. Sie wollte sich zu den beiden Männern umdrehen, aber da glaubte sie erneut einen Blick auf Aurelias lange, glänzende Zöpfe zu erhaschen. Irgendwie war es dieser gelungen, geduckt an den Pferden vorbeizuhasten. Das Gedränge hatte sich ein wenig gelichtet, der Weg zu ihr war frei.
    »Gott sei Dank!«, stieß Victoria aus und wollte auf sie zulaufen. Schon nach dem ersten Schritt ertönte der Schuss. Er war ohrenbetäubend laut – während Aurelia ganz ohne jegliches Geräusch niedersank. Victoria sah nicht, wo sie getroffen wurde, sah nur Blutstropfen auf das bleiche Gesicht spritzen, sah, wie wieder Pferde näher kamen, mit ihren Hufen die leblose Aurelia zu begraben drohten.
    Noch schneller als sie war jener Tiago bei Aurelia. Er handelte blitzschnell, zog Aurelia erst von den Hufen weg und hob sie dann hoch, um sie in Sicherheit zu bringen.
    »Aurelia!«, schrie Victoria.
    Ehe sie zu den beiden hasten und sich vergewissern konnte, dass es Aurelia gutging und der Schuss nicht tödlich gewesen war, sprangen neben ihr Polizisten vom Pferd und verstellten ihr den Blick auf die Gefährtin.
    »Lasst mich vorbei!«, kreischte Victoria.
    Die Polizisten dachten gar nicht daran. Von allen Seiten schienen sie zu kommen und ergriffen sie an den Armen. Ein Gesicht beugte sich über ihres, narbig, überdrüssig, streng.
    »Du gehörst zu diesen verdammten Unruhestiftern«, knurrte der Mann, »du gehst nirgendwohin, Mädchen, sondern kommst mit uns.«

9. Kapitel
    A ls Aurelia zu sich kam, wusste sie nicht, wo sie war.

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