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Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Titel: Im Schatten des Feuerbaums: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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öffnete – Tiagos Welt, in der sie sich nicht zurechtfand, in die sie nicht gehörte. Ganz gleich, wie sehr sie ihn liebte.
    Bis jetzt hatte sie auf das Haus gestarrt, nun wandte sie sich Andrés zu.
    »Ich verstehe das alles nicht. Tiago ist doch Maler? Warum sonst würde er an der Escuela de Bellas Artes unterrichten, wenn es nicht so wäre? Und er versteht so viel von Kunst … es ist doch nicht möglich …«
    Sie brach ab.
    »Ja, Tiago ist Maler. Oder will es zumindest sein. Aber die Einzige, die er je unterrichtet hat, bist du. Er ist kein Lehrer an der Escuela, sondern lediglich ein normaler Student!«
    »Aber …«
    Ihr fiel wieder ein, wie ehrfürchtig ihm die Menschen begegnet waren, wenn sie durch die Gänge und Räume der Escuela geschritten waren. Niemand hatte gewagt, ihn anzusprechen oder nach dem jungen Mädchen zu fragen, das sich in seiner Gesellschaft befand. Sie hatte das Verhalten als überaus großen Respekt vor einem ihrer Professoren gehalten, und Tiago hatte sie in dem Glauben gelassen. Doch in Wahrheit, das ging ihr nun auf, hatte diese Scheu nicht seinen Leistungen als Künstler gegolten, sondern seinem Namen. Er war kein gewöhnlicher Student, aber er war auch kein herausragendes Genie.
    Andrés’ Miene wurde nachsichtig: »Sein Glück ist, dass er nur der zweitgeborene Sohn von William Brown und Alicia Alvarados ist. Sein Vater setzt all seine Hoffnungen auf Tiagos älteren Bruder Guillermo. Er wird dereinst das Familienunternehmen erben, während Tiago sich alle Freiheiten nehmen kann, die ihm in dessen Schatten zufallen. Er hat also durchgesetzt, an der Escuela zu studieren … ja, studieren, weiter nichts, und natürlich hat man ihn dort aufgenommen, weil er eben der Sohn seines Vaters ist. Ich glaube allerdings nicht, dass er es ohne seinen Namen dazu gebracht hätte. Ich meine, hast du je seine Bilder gesehen? Ich verstehe nicht viel von Kunst, aber dies kann ich schon beurteilen: Sie sind ganz nett, mehr auch nicht. Ich nehme an, du malst ungleich besser.«
    Der Boden schien unter Aurelias Füßen zu schwanken. Kein Professor … kein Maler … nur Sohn einflussreicher Eltern.
    »Das … das glaube ich nicht«, stammelte sie. Wenn sie sich auch gegen keine der anderen Wahrheiten wehren konnte – gegen diese schon: dass sie besser malte als Tiago!
    Andrés ging nicht weiter darauf ein. »Manchmal wird Tiago natürlich in die Pflicht genommen und muss seine Familie repräsentieren. Deswegen waren wir damals auch in Valparaíso. Nach dem Erdbeben ist die Stadt verarmt, und obwohl alle Geschäftsleute darum nach und nach ihre Unternehmen von dort nach Santiago verlegt haben, will man sich natürlich nicht den Anschein von Hartherzigkeit geben. Immer wieder gibt es Wohltätigkeitsbasare, bei denen für den Wiederaufbau der Stadt gespendet wird, nichts Großes, nichts Wichtiges. Dorthin schickt man eben Tiago … nicht Guillermo.«
    »Ich … ich verstehe nicht«, stammelte Aurelia wieder. »Warum hat er mir nichts davon gesagt?«
    Andrés seufzte und zögerte seine Antwort hinaus, als fiele es ihm schwer, ihr die Wahrheit zu sagen. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Tiago jemals ernsthafte Absichten mit dir verfolgt hat«, meinte er schließlich gedehnt. »Du warst eine nette Abwechslung, mehr nicht!«
    »Das ist nicht wahr!«
    »Wenn du wirklich davon überzeugt bist, dann kannst du ihn ja fragen. Du kannst an die Tür dieses Hauses klopfen und um Einlass bitten. Ich bin mir nur nicht sicher, ob man ihn dir gewährt. Oder dich im schlimmsten Fall als Bettlerin davonjagt.«
    Warum sagte er das so spöttisch, warum war er so gemein – ganz so, als gefiele es ihm, sie zu demütigen? Und vor allem: als gefiele es ihm, Tiago in den Rücken zu fallen?
    »Du bist doch sein Freund.«
    Der spöttische Ausdruck schwand aus Andrés’ Gesicht – er verzog nun sein Gesicht, als bereite ihm diese Tatsache Schmerzen. »Ja, das bin ich wohl«, stieß er aus. »Und da habe ich Glück gehabt. Tiago hält nicht viel vom Klassensystem, musst du wissen. Ihm ist es egal, ob ich als Arzt bloß zur Mittelschicht gehöre oder nicht. Vielleicht ist es ihm auch egal, wer du bist. Zumindest, wenn es darum geht, gemeinsam spazieren zu gehen oder Limonade zu trinken. Aber weder ich noch Tiago haben die Macht, die Gesetze unserer Welt außer Kraft zu setzen. Das Klassensystem in Chile erscheint oft so starr wie die Kasten in Indien.«
    Aurelia wusste nicht, was Kasten waren, wollte aber nicht

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