Im Schatten des Klosters - Historischer Roman
Richtung.« Fredegar winkte ab. »Manchmal verlieren Rituale ihren Inhalt – anders als die Sakramente der heiligen Kirche, was uns zeigt, dass sie die einzigen wahren Rituale sind.«
»Ich war noch ein kleines Kind, als ein Feuer den hölzernen Torbau erfasste. Glimmende Balken fielen auf den Baumstumpf und verbrannten ihn. In einer einzigen Nacht verwandelte sich ein Symbol der Macht und Einheit in einen Haufen Holzkohle.«
Ulrich schwieg und blickte mit zusammengekniffenen Augen in die Vergangenheit. Fredegar war klug genug, ebenfalls zu schweigen. Ulrichs Hände streichelten das alte Kleidungsstück, sanft, ganz sanft … die Hände des Archivars waren im Gegensatz zu seinem Körper schlank, kräftig und feinnervig. Die Farb- und Tintenflecke daran verschmutzten sie nicht, sondern veredelten sie. An Ulrichs fülligem Leib wirkten sie wie Fremdkörper, wie die Hände eines anderen, graziöseren Ulrich, der sie aus den Ärmellöchern der Kutte steckte, die über des echten Ulrichs dicken Hüften spannte. Oder war der echte Ulrich der, dem die edel geformten Hände gehörten, und der andere sozusagen nur der Panzer darüber, den er gegen das Leben gebildet hatte?
»Zwei Winter später war alles vorbei«, sagte Ulrich. »Zuerst hatten die meisten Pächter den Herrn verlassen, weil sie glaubten, dass der Brand ein böses Vorzeichen war. Dann ließ der Herr die Pächter im Stich, weil er mehr und mehr glaubte, sein Besitz sei verflucht. Er suchte sein Heil im Weinfass, der arme Kerl. Mein Vater war einer der Letzten, der aufgab und sich auf die Wanderschaft machte.«
»Und dich brachte er dem Kloster dar.«
»Ein Esser weniger. Ich war der Jüngste … und wahrscheinlich sollte ich ihm noch dankbar sein. Es war kurz nach der Geburt des Herrn, als er aufbrach. Die Flüsse waren voller Eis und die Wälder voller halb verhungerter Wölfe. Ich hätte die Wanderschaft nicht überlebt.«
»Wie alt warst du?«
Ulrichs Hände hielten mit dem Streicheln des Kapuzenmantels inne. »Ich habe in diesen Mantel gepasst«, sagte er.
»Hast du je wieder von deiner Familie gehört?«
Ulrich schüttelte den Kopf. »Und weißt du was? Ich habe keine Erinnerung mehr daran, wie mein Vater aussah, oder wie die Stimme meiner Mutter sich anhörte. Aber ich könnte dir noch jede Windung im Schnitzwerk des Baumstumpfs aufzeichnen. Verstehst du? Der Baum war nichts, nur ein Symbol, von dem keiner wusste, warum er überhaupt dazu geworden war – und als er fiel, fiel alles mit ihm. Der Glaube der Menschen reichte nur so weit, wie sie dieses Ding sehen, anfassen und an Mariä Himmelfahrt darum herumtanzen konnten. Deshalb sind mir Symbole verhasst, weil sie dem Glauben die Kraft nehmen, die er aus sich selbst bezieht.« Ulrich schüttelte verwundert den Kopf. »Jede Windung, jede Kreuzung in diesem unheiligen Schnitzwerk. Und von meinem eigenen Vater weiß ich nur noch, dass er mich in dem letzten Sommer, den wir miteinander verbrachten, in einem Seitenarm des Rheins lehrte, mich über Wasser zu halten, um in den Fluten des Lebens nicht unterzugehen. Ha!«
»Ich bin weit herumgekommen in der Welt«, sagte Fredegar nach einer Weile. »Bevor ich beschloss, hier den Sünden zu entsagen, habe ich sie erst noch alle begangen. Ich bin dem Ruf des großen Bernhard gefolgt und mit Herrn Konrad ins Heilige Land gezogen, dem Kreuz hinterher, das auf eine Fahne genäht war … nur ein weiteres Symbol, wenn man ehrlich ist. Du hast schon richtig erkannt, welche Kraft Symbole haben.«
»Und deshalb«, sagte Ulrich, »fürchte ich, dass Prior Remigius Recht hat.«
»Natürlich hat er Recht.« Ulrich, der erwartet hatte, dass Fredegar aufbrausen würde, sah den alten Mann erstaunt an, als dieser sich seufzend auf Ulrichs Lagerstätte setzte. »Die guten Mönche von Sankt Albo sind noch nicht so weit. Der Geist ist willig …«
»Vielleicht, wenn nicht ausgerechnet der Schädel des heiligen Albo gestohlen worden wäre und die Diebe eine andere Reliquie mitgenommen hätten …«
»Das Kloster hat nun mal keine andere Reliquie, Bruder.«
»Wenn der Schädel nicht wieder auftaucht, ist unsere Gemeinschaft dem Untergang geweiht, so wie damals das Land des Grundherrn meiner Familie.«
Fredegar, der Ulrichs Schätze gemustert hatte, sah auf. »Du darfst dich nicht von den Schatten der Vergangenheit dazu bringen lassen, etwas zu tun, woran du nicht glaubst.«
»Es sind nicht die Schatten der Vergangenheit, Bruder Fredegar.« Ulrich streichelte den
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