Im Schatten des Klosters - Historischer Roman
»Wie zu Gregor.«
»Ich wette, du hast inzwischen herausgefunden, wo das Ungeheuer haust.«
Iver atmete tief ein und verdrehte die Augen. Barbara hob das Messer. Iver stöhnte.
»Jetzt ist es aber genug, Kindchen. Ich hab nicht gelogen, als ich sagte, ich hätte die Schnauze voll von dir.«
»Du bist mir was schuldig.«
»Nein, Kindchen, nein. Ich bin dir gar nichts schuldig. Erst recht nicht in dieser Angelegenheit. Du bist nicht Judith, die hinter Holofernes her ist, um ihr Volk zu befreien. Als ich dir das letzte Mal geholfen habe, habe ich es für Gregor getan. Jetzt ist Schluss damit.«
»Wo finde ich das Schwein, Iver? Ich warte nicht noch mal im Dom auf ihn.«
»Verschwinde, Barbara.«
Sie musterte ihn und erkannte, dass er es ernst meinte. Sie wandte die Augen ab, um ihn nicht sehen zu lassen, wie groß ihre Not war. »Ein letztes Mal, Iver. Sag mir nur, wo ich ihn finde.«
»Verlegst du dich jetzt aufs Bitten?«
»Nein.«
Einige Augenblicke war Schweigen zwischen ihnen. Schließlich sah Barbara auf. Ivers Gesicht war verkniffen. Sie erkannte, dass sie ihn diesmal nicht beeindrucken konnte. Sie hätte es noch einmal mit Drohungen versuchen können, doch ihr fehlte die Überzeugung, dass es wirkte, und sie sah in seinen Augen, dass er ihre Schwäche durchschaute. Ihre Verzweiflung war so groß, dass ihr Innerstes sich taub anfühlte. Sie machte eine nutzlose, kleine Bewegung mit dem Messer und steckte es dann weg. Als sie beim letzten Mal vor Iver geprahlt hatte, sie würde das Ungeheuer auch auf die harte Tour finden, war sie von ihren eigenen Worten überzeugt gewesen. Heute ahnte sie, dass sie es vielleicht doch nicht durchhalten würde – und dass es wahrscheinlich auch zu lange dauerte. Bis sie das Ungeheuer ausfindig gemacht hatte, würde es längst den Schädel an sich gebracht haben und wieder untergetaucht sein. Sie hatte ihre Chance gehabt, und sie hatte versagt. Sie konnte Iver nicht einmal einen Vorwurf machen, dass er sie jetzt hängen ließ.
»Es tut mir Leid«, sagte sie rau und wandte sich ab.
»Willst du mich auf den Arm nehmen?«
Barbara setzte sich in Bewegung. Ihre Beine waren schwer. Sie schüttelte den Kopf, während sie zum Ausgang der Gasse schlurfte. Ihre Seele war leer, und ihr Kopf fühlte sich ebenso leer an. Nur der jetzt nutzlose Plan, wie sie Bruder Antonius in die Falle locken konnte, hallte darin wie der klägliche Gesang eines einzelnen, verwirrten Chorknaben in einem verlassenen Dom. »Wir sind quitt, Iver«, sagte sie leise und zog das Tuch um ihre Schultern.
Der Leibwächter am Ende der Gasse funkelte sie voller Hass an. Sie hörte, wie Iver sich räusperte und dann brüllte: »Gero, du Hornochse, sofort her zu mir!« Der Leibwächter zuckte zusammen und fuhr herum.
»Die Stimme deines Herrn«, murmelte Barbara. »Du solltest ihr folgen, du bist schon genug im Verschiss.«
»Verrecke, du Miststück«, zischte der Mann. Barbara nickte.
»Du bist nicht der Erste mit diesen guten Wünschen«, sagte sie und ließ ihn stehen.
Am anderen Ende des Kirchplatzes holte der Leibwächter sie ein. Er keuchte und hatte einen roten Kopf vom schnellen Lauf und der Notwendigkeit, noch einmal mit ihr reden zu müssen.
»Iver lässt fragen, ob du das ernst gemeint hast.«
Sie musterte ihn so lange, dass er sich räusperte und Luft holte, um seine Frage zu wiederholen. Sie kam ihm zuvor.
»Sag ihm, wir sind quitt.«
Der Leibwächter hielt zwei Finger in die Höhe. »Iver kennt ein altes und ein neues Gerücht. Welches willst du hören?«
»Das Neue.«
»Der Heilige Knochen«, sagte der Mann, drehte sich um und stapfte über den Platz zurück.
Kapitel 23.
D er Heilige Knochen schien kleiner und leerer ohne Rinaldo. Ohne dass es ihm selbst bewusst geworden war, hatte Jörg den kleinen Sänger ins Herz geschlossen. Er erinnerte sich an ein Gespräch, das Rinaldo begonnen hatte, als sie mit dem Aussortieren der Reliquienanbieter beschäftigt gewesen waren – eine Unterhaltung über Lehnstreue und Lehnspflicht, und dass es für den Lehnsmann ebenso selbstverständlich war, sich im Dienst für seinen Herrn ohne Rücksicht auf sich selbst einzusetzen, wie auch, auf sich selbst zu achten, um seinen Wert als Gefährte und Helfer des Lehnsherrn zu erhalten. Rinaldo hatte erklärt, dass es schwierig sei, zwischen diesen beiden Anforderungen das Gleichgewicht zu halten. Jörg hatte ihm zugestimmt – erstaunt, dass der Sänger solche tiefgehenden Gedanken über Treue und
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