Im Schatten des Klosters - Historischer Roman
Pflicht wälzte – und daran gedacht, dass er mit seiner Liebe zu Irmgard und seiner Flucht vom Hof des Grafen in das Abenteuer der Pilgerfahrt beide Gesetze verletzt hatte.
Ulrich saß auf der Truhe in ihrer Kammer und starrte ins Leere. Jörg musterte ihn aus dem Augenwinkel. Ulrich hatte sich nicht darüber verbreitet, was ihn dazu gebracht hatte, Rinaldo aus seinem Dienst zu entlassen. Er war allein vom Dom zurückgekommen (das heißt, ein feixender kleiner Junge hatte ihn herbegleitet) und hatte lediglich bemerkt, dass sie nicht länger zu dritt seien. Dann war er an Jörg vorbeigestampft und die Treppe in ihre Kammer hinaufgestiegen. Sein Gesicht war so finster gewesen, dass die wenigen Anbieter, die sich heute in der Schänke eingefunden hatten, mit eingezogenen Köpfen hinausgeschlichen waren; heute war offenbar kein guter Tag für Geschäfte. Doch Jörg, der näher an Ulrich gestanden war, hatte gesehen, dass die Augen des Mönchs rot und geschwollen waren. Ulrichs grimmiges Gesicht hatte lediglich bemäntelt, dass Rinaldo ihn tief ins Herz getroffen hatte.
Jörg war ihm nach einigem Zögern gefolgt. Ulrich hatte sein Eintreten kaum zur Kenntnis genommen. Jörg hatte sich auf seinem Lager ausgestreckt und darauf gewartet, dass Ulrich zu reden begann, aber nichts geschah. Jörg ahnte, dass es weniger daran lag, dass Ulrich kein Vertrauen zu ihm hatte, sondern dass er nicht wusste, wie man sein Herz einem anderen gegenüber erleichterte. Die formalisierten Riten und Gespräche im Kloster machten es ihm offenbar schwer, frei von allen Formeln zu sprechen. Oder vielleicht wuchs eine Klostergemeinschaft mit den Jahren so nahe zusammen, dass es nicht nötig war, den anderen von seinen Gefühle zu berichten; sie wussten es auch so. Mit langjährigen Kampfgefährten verhielt es sich ebenso … nur war hier das Problem, dass Ulrich und Jörg erst kurze Zeit Gefährten waren, und Jörg hatte keine Ahnung, wie er Ulrichs kleine Gesten deuten und in seiner düsteren Miene lesen sollte, was vorgefallen war. Andererseits war es ihm nicht gegeben, mit klugen Worten aus Ulrich herauszulocken, was der Mönch vielleicht gern gesagt hätte und wozu er nur einen kleinen Anschub brauchte …
Jörg musterte seine Hände und stellte erneut fest, dass er offenbar zu jeder Gelegenheit über die falschen Fertigkeiten verfügte. Rinaldo mit seinem Mundwerk dagegen war wie ein Mann erschienen, der für jede Situation gerüstet war; man hätte ihm sogar abgenommen, sich inmitten einer Horde Menschenfresser vom Bratspieß herunterzuschwatzen.
Was hatte Rinaldo Ulrich angetan? In der kurzen Zeit, die sie benötigt hatten, um von der Schänke zum Dom zu gelangen?
Ulrich stand plötzlich auf und kniete sich vor der kleinen Fensteröffnung zum Beten nieder. Jörg beobachtete ihn eine Weile; dann erhob auch er sich.
»Ich sehe mal unten nach, ob die Schwachköpfe wieder zurück sind«, sagte er. Er hätte ebenso gut in einen leeren Raum hineinsprechen können. Er zog die Tür leise hinter sich zu und schlich die Treppe hinunter.
Die Reliquienhändler waren nicht zurückgekommen. Die Schankstube war leer bis auf den Wirt und eine junge Frau. Der Wirt streckte zögernd eine Hand aus, und die Frau legte etwas hinein, drehte sich abrupt um und verließ die Schankstube. Irgendetwas an ihrem Gang kam Jörg bekannt vor. Er beobachtete, wie sie die wenigen Stufen zur Gasse draußen hinaufstieg; dann erst bemerkte er, dass der Wirt ganz aufgeregt vor ihm stand.
»Ich glaube, Ehrwürden hat gefunden, was er sucht«, haspelte der Wirt.
»Was meinst du damit?«
Der Wirt hielt Jörg einen Stofffetzen vor die Nase. Jörg nahm ihn dem Mann ab und musterte ihn.
»Da steht was drauf geschrieben«, brummte er. »Was für ein Gekrakel!« Er hielt den Fetzen auf Armeslänge entfernt. »Wenn Ihr den Schädel sucht, ich habe ihn«, entzifferte er. »Ich werde ihn günstiger verkaufen als der Mann, der ihn gestohlen hat. Aber es muss sofort geschehen.«
Jörg sah auf und starrte den Wirt an. »Was soll denn das bedeuten?«
»Ich schätze, sie hat ihn bei ihrem Mann gesehen«, sagte der Wirt. »Hat sie wahrscheinlich einmal zu oft verprügelt. Und jetzt will sie ihn ihrem Alten unterm Hintern weg verhökern, bevor der Trottel merkt, was los ist.«
»Glaubst du diesen Mist?«, fragte Jörg.
Der Wirt zuckte mit den Schultern. »Das musst du Ehrwürden entscheiden lassen, oder?«
»Zum Läuten der Sextglocken bei den Fischerhütten hinter dem
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