Im Schatten des Klosters - Historischer Roman
Kunibertsturm«, las Jörg. »Ich warte nicht lange.« Er kratzte sich am Kopf. »War das die Kleine, die eben bei dir war?«
Der Wirt nickte. »Hübsche Larve, so viel ich davon sehen konnte.«
Jörg betrachtete die geschlossene Eingangstür der Schankstube. »Wo ist das, der Kunibertsturm?«
»Flussabwärts, am anderen Ende der Stadt.«
»Warum bringt sie das Ding nicht hierher?«
»So wie die angezogen war, ist ihr Alter ein Fischer oder sonst ein Hungerleider. Wahrscheinlich ist er um die Sext herum auf dem Fluss, und sie kann nur dann an den Schädel ran.«
»Und ausgerechnet so einer soll den Schädel von Sankt Albo in seinem Besitz haben?«
Der Wirt verzog den Mund. »Kennst du die Geschichte vom Fischer, bei dem man ein kostbares Schwert fand? ›Ich hab einen Passagier übergesetzt‹, sagte der Fischer, ›aber mitten auf dem Fluss ist der Unglückliche über Bord gefallen und im Wasser verschwunden. Ich hab sein Schwert aufgehoben, für den Fall, dass er doch nicht ertrunken ist und nach der Waffe fragt‹.«
Jörg brummte und reichte dem Wirt den Stofffetzen zurück. »Bring ihn hoch«, sagte er. »Ich knöpf mir die Kleine vor und fühle ihr auf den Zahn. Ich glaube, mit der stimmt was nicht.«
Der Wirt zuckte mit den Schultern und stieg die Treppe hinauf. Den Fetzen trug er vor sich her, als wäre er ein goldenes Heiligtum. Jörg war mit drei Sätzen bei der Tür und riss sie auf.
Natürlich war die Frau verschwunden. Jörg drehte sich einmal um die eigene Achse, doch abgesehen von den üblichen Müßiggängern, die sich die Gasse mit den Arbeitenden teilten, war niemand zu erblicken. Während er mit dem Wirt geschwatzt hatte, war sie ihm entkommen. Jörg stampfte mit dem Fuß auf und fragte sich gleichzeitig, warum er sich ärgerte. Er stellte fest, dass er jetzt, nach Rinaldos Weggang, ein stärkeres Verantwortungsgefühl für Ulrich entwickelt hatte. Das Herangehen der Frau war außergewöhnlich und unterschied sich von dem aller anderen Anbieter. Das mochte bedeuten, dass sie die Erste war, deren Angebot man ernst nehmen konnte; es mochte aber auch bedeuten, dass sie irgendetwas im Schilde führte. Ein Treffen außerhalb der Stadtmauern zwischen verdreckten Fischerhütten, die tagsüber wahrscheinlich verlassen waren und wo alles Mögliche passieren konnte, ohne dass es einen Zeugen gab! Reliquienhandel war ein einträgliches Geschäft und der Verdienst umso größer, je weniger Konkurrenz es gab. Würde jemand es wagen, dem vermeintlichen Bruder Antonius eine Falle zu stellen, um ihn zu beseitigen? Oder sollte man die Frage anders formulieren: Würde jemand, wenn er Bruder Antonius ans Fell wollte, es anders angehen, als ihm eine Falle zu stellen?
Jörg wandte sich an einen unrasierten Kerl, der ein Stück weiter die Gasse hinunter vor einem niedrigen Wohnhaus hockte und mit bedächtiger Gründlichkeit Fische ausnahm.
»Sitzt du schon länger hier?«
Der Mann kniff ein Auge zu und spähte zu Jörg hoch. Er sagte kein Wort und machte auch sonst keine Bewegung, die verraten hätte, dass er Jörgs Worte verstand.
»Vor ein paar Augenblicken ist eine Frau aus der Schänke da oben gekommen. Hast du gesehen, wohin sie gegangen ist?«
Der Mann legte das kleine Messer weg, wischte sich vorn am Hemd die Hand ab – da war plötzlich eine Verzierung aus Fischdärmen und Schuppen, geradezu kleidsam – und streckte sie mit der Handfläche nach oben aus. Die Geste war klar. Jörg überlegte eine Sekunde lang; dann packte er die fischige Hand und zog daran, bis er den Arm ausgestreckt vor sich hielt und die Zehen des Fischeputzers ein paar Fingerbreit über dem Boden schwebten. Es war so schnell gegangen, dass der Fischeputzer nicht einmal Zeit gehabt hatte, vor Schreck sein Messer fallen zu lassen. Jetzt klimperte es zu Boden. Jörg lächelte dem Mann freundlich ins Gesicht.
»Richtung Sa… Sankt Maria Ly… Lyskirchen«, stammelte der Mann.
»Wo ist das?«
»Die Gasse runter nach Norden …«
Jörg lächelte freundlich und setzte den Mann wieder ab. Dessen Beine gaben nach, bis er wieder auf dem Boden saß, nicht viel anders als vorher, nur dass sein Hosenboden nun in den Fischgedärmen ruhte.
»Geht doch«, sagte Jörg und zwinkerte dem Mann zu. »War nur ein Spaß.«
Der Fischeputzer starrte zu ihm hinauf und sagte nichts. Sein Gesicht war bleicher als die Fischbäuche vor ihm. Jörg nickte ihm zu und trabte davon.
Bei Sankt Maria Lyskirchen war die Frau nicht zu finden; auch nicht
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