Im Schatten des Krans: Ein historischer Kriminalroman aus Hamburg (German Edition)
musste er zur Luke hinüberblicken, in der die Männer verschwunden waren.
»Was passiert hier?«, fragte er leise. »Gerade sind einige Männer freiwillig in die Luke gesprungen.«
Der Klabautermann lachte herzlich. »Das sind Kohlenjumper. Es ist ein ganz neuer Beruf. Den gibt es erst, seit die Schiffe so groß und die Laderäume so tief geworden sind.«
In diesem Augenblick kletterten die Männer, die Moritz schon für tot gehalten hatte, eine Leiter hoch und nahmen wieder Aufstellung an der Lukenkante.
»Früher konnte man die Körbe von Hand hochreichen oder über eine Planke nach oben tragen«, erklärte der Klabautermann, »doch das geht jetzt nicht mehr.«
Moritz beobachtete, wie jeder der Männer nach einem der herunterhängenden Seile griff.
»Siehst du den Knoten im Seil?«, fragte Kapitän Westphalen. »Das ist ihre Markierung. Sie springen hinunter, mit dem Knoten in den Händen. Wichtig ist, dass sie alle gleichzeitig springen. Bevor sie unten ankommen, spannen sich die Seile und die Männer werden durch das Gewicht des Kohlenkorbs abgebremst. Dadurch wird der Korb hochgerissen und kann oben an der Luke abgefangen werden.«
»Verstanden«. Moritz überlegte kurz, wie es wäre, selbst mit einem Seil in der Hand in den tiefen Laderaum zu springen. »Ich möchte das nicht machen. Das muss in den Armen und Schultern ziemlich wehtun.«
»Die Kohlenjumper verdienen am besten von allen im Hafen«, erklärte Kapitän Westphalen. »Trotzdem gibt es nur wenige Männer, die es machen wollen. Denn lange kann man diese anstrengende Arbeit nicht durchhalten. Höchstens zwei oder drei Jahre.«
Auf dem Rückweg beschäftigte sich Moritz immer noch mit den tollkühnen Männern, die Kohlenkörbe zum Fliegen brachten. Zum ersten Mal hatte er das Gefühl, das der Beruf des Commis’ vielleicht doch nicht die schlechteste Wahl war.
Hinrich Quast schaffte es kaum, das Boot gegen den ablaufenden Ebbstrom vorwärts zu bringen. Jedes Mal, wenn ihn der Husten schüttelte, trieb das Boot wieder ein Stück zurück.
»Kannst du rudern?«, fragte der Kapitän.
Moritz nickte.
»Dann lös Hinrich ab.«
Moritz stemmte sich gegen das Fußholz und zog die Riemen durch. Das Boot machte Meter um Meter gut. Jetzt verdoppelte er seine Anstrengungen. Es bereitete ihm großes Vergnügen, den beiden Männern zu zeigen, dass er noch etwas anderes konnte als Tinte auf Papier zu klecksen.
Auch an diesem Abend trafen sich Moritz und Jette wieder bei Stehr auf der Treppe. Sie saßen eng nebeneinander, denn sicherlich wollte die alte Frau Stehr wieder ihren Abendspaziergang machen, und man wollte sie nicht ohne Not gegen sich aufbringen. Heute sprachen die beiden nicht viel, genau genommen gar nichts. Moritz spürte Jettes Schulter an seiner Schulter und ihre Hand unter seiner. Ihm fiel auf, dass sie ziemlich kalte Hände hatte.
Jette seufzte schwer und lehnte ihren Kopf gegen seine Brust. Moritz schaute sich erschrocken um. Zu seiner Beruhigung stellte er fest, dass niemand auf der Twiete stehen geblieben war und mit spitzen Fingern auf sie zeigte. Die Welt drohte anscheinend auch nicht unterzugehen, obwohl die große Glocke von St. Katharinen wie wild schlug.
Er schnupperte an Jettes Haaren. Sie dufteten nicht nach Frühlingsblumen wie bei Cäcilie, anscheinend roch die ganze Jette nicht nach Blumen. Sie roch eher so wie er, und er konnte sich nicht erinnern, je nach Frühlingsblumen gerochen zu haben. Auch die Wärme, die Cäcilie ausströmte, bemerkte er bei Jette nicht.
11
Es war Freitag geworden, die Woche steuerte ihrem Ende zu. Moritz machte den elften Strich auf dem Papier, dass er mit »Liste der Leiden des Roger Stove« überschrieben hatte. Er war sich sicher, dass Roger ebenfalls solche Striche machte, mühsam eingeritzt in die feuchten Wände seines kalten Verlieses.
Am Abend erledigte er seine Routinearbeiten im Kontor, doch er war nicht wirklich bei der Sache. Immer wieder hoffte er auf Cäcilies leichte Schritte, doch nichts war zu hören.
Johann Forck war beim Abendessen außergewöhnlich schweigsam. Er widmete sich dem gebratenen Hering und den Kartoffeln mit einem Interesse, das er dieser Malzeit sonst nicht entgegenbrachte. Jan und Moritz blickten sich fragend und ungeduldig an.
Schließlich legte Johann das Besteck zur Seite, musterte erst seine Söhne, dann seine Frau. Als er sicher war, die gebotene Aufmerksamkeit zu bekommen, räusperte er sich umständlich. »Ich habe eine Information über den Mord
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