Im Schatten des Krans: Ein historischer Kriminalroman aus Hamburg (German Edition)
Griff.
»Erst musst du die Neuigkeiten erfahren.«
Moritz hörte ihrem Bericht ungeduldig zu. Dann blickte er in den dunklen Keller hinunter. »Mein Vater hat sich im Hafen umgehört, aber es ist wie verhext. Niemand will etwas gesehen oder gehört haben.«
Cäcilie war in Gedanken bei Roger. Sicherlich, dachte sie, sitzt er jetzt in einem ebenso kalten und feuchten Keller wie wir. Vielleicht sogar ohne Kerze. Ja, ganz sicher ohne Kerze. Wahrscheinlich haben sie ihn an einer Wand angekettet. Oder er schleift eine schwere Eisenkugel hinter sich her auf seiner ruhelosen Wanderung von einer Wand des Verlieses zur anderen. Und wenn er nicht wandert, dann schlägt er die Ratten tot, die sich über sein letztes Stück Brot hermachen.
Sie schüttelte sich vor Ekel und flüchtete in Moritz Arme. Dann pressten sie ihre Lippen fest aufeinander. Seine Nähe und die Stärke, mit der er sie an sich drückte, beruhigten Cäcilie. Küssen macht glücklich, stellte sie fest. Doch es schien nicht nur sie, sondern auch Moritz glücklich zu machen. Jedenfalls glänzten seine Augen nach jedem Kuss.
Seit sich Moritz um den umgefallenen Eimer von Jette gekümmert hatte, saßen die beiden regelmäßig auf den Stufen bei Stehr und plauderten miteinander. Um genauer zu sein: Meist sprachMoritz und Jette hörte zu. Er erzählte von seiner Arbeit im Kontor, wobei er allerdings verschwieg, wie wenig erfolgreich die Schreibübungen waren. Auch die Nachhilfestunden mit Cäcilie und deren Küsse vergaß er zu erwähnen, viel lieber erzählte er vom Hafen und dem Kontor auf dem Steinhöft.
Manchmal empfand er es als anstrengend, nur von seiner Arbeit zu berichten, doch wenn er Jette aufforderte, auch etwas zu erzählen, sagte sie nur: »Was soll ich schon sagen? Soll ich dir erzählen, dass ich die Wohnung gefegt und die Wäsche gewaschen habe?« Mit Erstaunen stellte Moritz fest, dass Jette ähnliche Arbeiten verrichten musste wie er, und merkwürdigerweise erfüllte ihn das mit Befriedigung.
Es war angenehm, einfach nur auf der Treppe zu sitzen und zu reden oder dem Betrieb auf der Straße zuzusehen. Allerdings hielten beide einen gebührenden Abstand voneinander, jeder achtete streng darauf, auf seiner Seite der Treppe zu bleiben. Dieser Sicherheitsabstand ließ sich heute jedoch nur kurze Zeit aufrechterhalten, denn die Tür zu Stehrs Ausrüstungsgeschäft öffnete sich plötzlich. Die alte Anna Stehr blickte ärgerlich auf die beiden Kinder hinunter, die ihr den Weg versperrten.
»Platz da!«, keifte sie und stocherte mit ihrem Stock nach Moritz. »Das hier ist keine Parkbank. Ich will runter!«
Moritz rückte erschrocken zu Jette hinüber, um die alte Frau vorbeizulassen. Danach hätte er eigentlich wieder auf seine Seite wechseln können, doch er blieb, wo er war. Er hatte Jettes knochige Schulter an seiner Schulter gespürt und ihr hartes Knie durch den Stoff seiner Hose. Und er spürte ihre Hand unter seiner. Jette hatte kurz gezuckt, als sie sich berührten, doch sie ließ ihre Hand auf der Stufe liegen.
So saßen sie eng nebeneinander. Beide waren sich offensichtlich dieser ungeheuerlichen Situation bewusst, denn verlegen schaute jeder zur anderen Seite weg. Moritz spürte, wie sein Mund trocken wurde, und wusste plötzlich nicht mehr, was er gerade gesagt hatte. Es fiel ihm auch nichts ein, was er noch hätteerzählen können. Und dann registrierte er, dass wieder die große Glocke von St. Katharinen in seinem Kopf dröhnte.
Wahrscheinlich wären die beiden die ganze Nacht auf der Stufe sitzen geblieben, wenn nicht plötzlich Vater Jacobsen im Hof herumgebrüllt hätte, wo denn dieses faule und unzuverlässige Gör abgeblieben sei.
10
Wieder einmal gab es keine Korrespondenz, die ins Englische übersetzt werden musste, wieder war Moritz an das Pult in der Großen Reichenstraße gefesselt. Mit wenig Lust und mäßigem Erfolg fertigte er Briefkopien an.
Am nächsten Tag jedoch, dem neunten Tag von Rogers Kerkerhaft, wurde er wieder zum Steinhöft geschickt. Er hatte nur wenige Briefentwürfe bei sich, so dass die Arbeit schnell erledigt war.
»Gestern ist ein Kohledampfer aus England angekommen«, erklärte Kapitän Westphalen. »Die Ladung ist für unser Handelshaus bestimmt. Wir werden an Bord gehen und die Qualität der Kohle prüfen.«
Hinrich Quast ruderte sie zu den Liegeplätzen auf der Elbe. Das dauerte. Immer wieder legte der Schiffszimmermann Pausen ein, weil er husten musste.
»Haben wir einen eigenen
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