Im Schatten des Krans: Ein historischer Kriminalroman aus Hamburg (German Edition)
dachte sie, doch er ist ein interessanter Mann. Und ein wirklich gut aussehender Engländer.
15
Es war kalt und dunkel. Moritz lag wach im Bett, allein, ohne Jan. Es war nicht sein Bett und es war auch nicht ihre Kammer, in der das Bett stand, denn um ihn herum war viel Platz. Es musste ein riesiger Raum sein, so groß, dass er weder die Wände noch die Decke erkennen konnte. Moritz kniff die Augen zu Schlitzen zusammen, er versuchte es noch einmal. Jetzt sah er dunkelgraues, brüchiges Gestein, überall. Ohne Zweifel, er lag in einer Höhle. Er wollte sich aufrichten, sich aus dem Bett schwingen, doch es ging nicht. Er war festgekettet! Eine rostige, schmiedeeiserne Fußfessel an seinem rechten Bein verband ihn mit der Felswand. Er riss daran, doch die Fessel gab keinen Millimeter nach. Ungläubig schaute er sich um. Es gab nichts in dieser großen Höhle, keine Menschen und auch kein Möbelstück, nur ihn und dieses Bett.
Ganz weit entfernt, am Ende eines niedrigen Tunnels, konnte er jetzt einen flackernden Schein erkennen. Dort standen Menschen. Sie schrien und gestikulierten, doch er konnte sie nicht verstehen. Plötzlich vibrierte der Boden von stampfenden Schritten. Aus einer Nische löste sich ein schreckliches Wesen. Es wurde größer und größer und kam drohend auf ihn zu. Moritz zerrte wieder an der Fußfessel, doch die blieb fest verankert im Granit.
Dann stand der Drache vor ihm. Dunkelgrau war er und so groß, dass sein Rücken fast die Decke berührte. Aus seinen stachelbesetzten Schuppen tropfte weißes Sekret.
Der Drache riss das Maul auf. Zwischen den langen, spitzen Zähnen züngelte eine gespaltene Zunge hervor. Plötzlich schoss eine Flamme aus dem Rachen des Untiers, direkt auf Moritz zu. Sie traf ihn jedoch nicht, sondern fiel kurz vor ihm in sich zusammen. Doch er spürte die sengende Hitze, der beißende Gestank nahm ihm fast den Atem.
Noch ehe der Drache ein zweites Mal Feuer spucken konnte, stand seine Mutter vor dem Bett. Sie zerrte an Moritz’ Arm, wollte ihn aus der Gefahrenzone bringen, doch da war immer noch diese Fußfessel. Wieder raste eine Feuerwalze auf Moritz zu, wieder die Hitze und dieser Gestank. Die Menschen vor dem Eingang schrien jetzt immer lauter. Die Mutter fasste mit beiden Händen zu, ein heftiger Ruck, ein stechender Schmerz, dann lang er vor dem Bett, von der Fessel befreit.
»Nun komm schon«, keuchte Herta Forck. »Oder willst du ersticken?«
Moritz schnappte nach Luft. Er musste husten, er konnte fast nicht aufhören. »Was ist los?«, krächzte er.
»Feuer im Hof. Es brennt!«
Moritz rappelte sich hoch und torkelte hinter der Mutter ins Wohnzimmer. Um das offene Fenster drängten sich die Familie Kruse aus dem zweiten Stock und die alte Witwe Stücker. Er zwängte sich zwischen ihnen hindurch und sog die frische Luft tief in seine Lungen. Dann blickte er nach unten. »Es brennt ja gar nicht.«
»Dummkopf!«, schimpfte Herr Kruse. »Das hier ist der nächste Hof. Es brennt auf der anderen Seite. In unserem Hof.«
Moritz blickte sich suchend um. »Wo sind Vater und Jan?«
»Draußen. Löschen.« Herta Forck blickte angespannt auf die kleine Gemeinde, die sich um sie versammelt hatte und ihren Schutz suchte. »Die haben es noch in den Hof geschafft. Aber ich musste erst die anderen wecken.«
Niemand sagte etwas, alle blickten voller Angst auf das Küchenfester, wo dunkler Rauch hochwallte. Moritz hörte das Prasseln der Flammen und die Rufe der Leute nach Wasser. Inzwischen brannte es wohl schon im Treppenhaus, denn dicke Schwaden quollen unter der Wohnungstür hindurch in die Küche. Witwe Stücker krampfte ihre knochigen Hände um denGehstock und betete das Vaterunser. Die Kruse-Kinder drückten sich in die Schürze ihrer Mutter und weinten.
»Was machen wir, wenn das Feuer nicht zu löschen ist?«, fragte Frau Kruse. Ihre Stimme zitterte so stark, dass sie kaum zu verstehen war.
»Springen!«, sagte Herta Forck.
Herr Kruse stöhnte laut auf.
Moritz blickte wieder in den Hof hinunter. Im dritten Stock zu wohnen, war ihm bisher nicht besonders hoch erschienen. Die Speicher an den Fleeten reichten teilweise bis in den sechsten Stock, das war schon etwas anderes. Doch jetzt, wo er möglicherweise aus dieser Höhe hinunterspringen musste, war es ihm, als würde er hoch in den Wolken wohnen. Bevor ihm übel wurde, blickte er zur Seite.
Schlagartig erkannte er eine Möglichkeit der Rettung. Vielleicht konnten sie sich auf dem schmalen Sims zum
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