Im Schatten des Krans: Ein historischer Kriminalroman aus Hamburg (German Edition)
war zwar ein gutaussehender Mann, er war charmant und hatte gute Umgangsformen – was ihr durchaus gefiel –, doch irgendetwas fehlte. Was es war, konnte sie nicht benennen. Sie hatte aber beschlossen, Mr Turner auf diesem Ausflug einerPrüfung zu unterziehen und nach Art des ehrbaren Kaufmanns eine Gewinn- und Verlustrechnung aufzustellen.
Sie lehnte sich zurück und beobachtete Charles Turner unter halb geschlossenen Lidern, wie er das Boot mit kräftigen, gleichmäßigen Ruderschlägen vorwärtsbrachte. Er hatte seinen Gehrock abgelegt und ruderte kraftvoll und gleichmäßig. Bei jedem Zug traten die Halsmuskelstränge hervor, und sein Brustkorb wölbte sich unter der Weste. Das sah sehr männlich aus, und Cäcilie begeisterte sich am Spiel seiner Muskeln. Das ist auf jeden Fall ein Pluspunkt, dachte sie.
Charles schien ihre Gedanken zu erraten. Er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Es war kein jungenhaftes Lächeln, es war selbstverliebt und arrogant. Cäcilie fühlte sich ertappt. Sie schaute schnell weg – und ärgerte sich.
Du bist zu selbstsicher, Charles Turner, das ist keinesfalls ein Pluspunkt.
Und noch etwas störte sie an ihm. Manchmal, wenn er sich unbeobachtet glaubte, hatte sie Anzeichen von Verachtung und Spott gegenüber der Hamburger Lebensart bemerkt. Das allerdings war ein dicker Minuspunkt.
Immerhin kommt er aus einer honorablen Familie und hat gute Umgangsformen, dachte sie. Aber was bedeutete das schon? Auch sie kam aus einer reichen Familie. Und gute Umgangsformen hatte sie auch – wenn sie sich Mühe gab.
Schließlich gab es da noch etwas, was sie mehr als alles andere an ihm störte. Charles hatte sein Versprechen nicht gehalten. Er hatte nicht nach dem englischen Agenten geforscht. Entweder wusste er von Beginn an nichts über ihn und wollte sich nur ein Rendezvous erschleichen, dann war es Betrug. Oder er wusste genau, wo sich der Agent aufhielt, rückte jedoch nicht mit der Information heraus. Dann war es ein Vertrauensbruch.
Cäcilie tauchte ihre Hand ins Wasser und schloss die Augen.
Ich bin eindeutig nicht verliebt. Außerdem steht es zwei zu eins gegen dich, Charles Turner. Kein gutes Ergebnis.
Charles ließ die Ruderblätter sinken. Das Boot trieb langsam auf die Windmühle am Alsterdamm zu. Er schaute ihr ins Gesicht und lächelte. Er schaute sie so lange an, bis sie die Augen niederschlug. Jetzt verschwand sein Lächeln und machte einem ernsten Ausdruck Platz.
»Cäcilie, Sie sind die schönste Frau, die ich jemals gesehen habe.«
Sie errötete und fühlte sich, ganz gegen ihren Willen, geschmeichelt.
Charles richtete sich so gerade auf, als wäre er der Oberbefehlshaber einer Armee, der seinen Leuten einen wichtigen Befehl mitzuteilen hat. Er führte beide Hände an die Weste, dorthin, wo er das Herz vermutete.
»Cäcilie, ich kann nicht mehr schlafen, seit ich Sie gesehen habe. Selbst im Traum erschienen Sie mir.«
Sie taxierte ihn mit einem kühlen Blick.
Was denn nun? Entweder ist er wach oder er träumt, für eines muss er sich schon entscheiden.
»Ich danke meinem Lord, dass er meine Schritte hierher gelenkt hat. In Ihre Nähe. Es war eine göttliche Fügung!«
Mit Gott im Boot könnte es recht eng werden, dachte sie.
»Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass Sie meine Gefühle erwidern, liebste Cäcilie. Geben Sie mir ein Zeichen, ein kleines Zeichen. Ein Wort nur, bitte.«
»Wir treiben gegen den Alsterdamm.«
Der Engländer verharrte einen Augenblick in seiner theatralischen Geste. Dann schien er wieder in die Gegenwart zurückzufinden. Er ergriff die Ruder, legte sich kräftig ins Zeug und brachte das Boot aus der Gefahrenzone.
Das also war eine Liebeserklärung, dachte Cäcilie. Die habe ich mir anders vorgestellt. Nicht so wie im Theater, irgendwie liebevoller, aus dem Gefühl heraus, mit mehr Seele.
Während Charles Turner zum Neuen Jungfernstieg ruderte, beteuerte er ihr in abgehackten Sätzen und heftigen Bewegungenseine Zuneigung und Leidenschaft und bat inständig um ein Zeichen ihrerseits.
Er wiederholt sich, dachte sie. Wo er diese Sätze wohl aufgeschnappt hat? Bei Jane Austen oder Lord Byron? Ganz sicher von Jane Austen, denn so verschroben drückt sich heutzutage kein Mensch mehr aus, wir leben doch nicht in der Zeit unserer Großväter.
Mit einem Mal fürchtete sie sich vor diesem durchtrainierten Mann. Sollte ihn die Leidenschaft übermannen, könnte sie seinen Kräften nichts entgegensetzen. Sie wollte etwas
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